RM Rudolf Müller
Neustark-Pilotanlage: In den Container (l.) wird flüssiges Kohlendioxid eingeleitet.  Foto: Holcim (Schweiz) AG

Neustark-Pilotanlage: In den Container (l.) wird flüssiges Kohlendioxid eingeleitet.  Foto: Holcim (Schweiz) AG

Energetisches Bauen
14. September 2022 | Artikel teilen Artikel teilen

Beton als Kohlendioxid-Speicher?

Die Betonindustrie gilt als Klimakiller. Geht es nach dem Schweizer Startup Neustark, muss das aber nicht so bleiben. Bis 2025 wollen die Eidgenossen klimaneutralen Beton ermöglichen. Die Idee: Recyclingbeton wird zu einem mineralischen Granulat verarbeitet, das in der Lage ist, mindestens so viel Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu speichern, wie bei der Betonproduktion freigesetzt wird. Das so behandelte Granulat lässt sich als Kiesersatz für Frischbeton verwenden.

Die Neustark AG mit Sitz in Bern wurde 2019 von Johannes Tiefenthaler und Valentin Gutknecht als Spin-off der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich gegründet (ETH Zürich). Die beiden Jungunternehmer glauben fest an die Zukunft von Beton als Kohlendioxid-Speicher. Schon heute sei es möglich, mit 1 m3 Frischbeton rund 10 kg klimaschädliches CO2 dauerhaft zu binden – heißt es auf der Website von Neustark. Bis 2025 will das Startup diesen Wert vervielfachen. Dann soll jede Einheit Frischbeton mindestens dieselbe Menge CO2 speichern, wie bei ihrer Produktion frei wird – Beton wäre klimaneutral.

Pilotanlagen schon im Praxiseinsatz

Blick in den Betongranulat-Container einer mobilen Speicheranlage. Foto: Holcim (Schweiz) AG

Blick in den Betongranulat-Container einer mobilen Speicheranlage. Foto: Holcim (Schweiz) AG

Die Technologie von Neustark wird zwar gerade noch optimiert, erste Pilotanlagen zur CO2-Speicherung befinden sich aber bereits im Praxiseinsatz. Das Spin-off arbeitet zurzeit mit mehreren Schweizer Betonherstellern zusammen, denen man mobile Speicheranlagen zur Verfügung gestellt hat. Auch der Schweizer Baustoffkonzern Holcim kooperiert mit Neustark und hat die CO2-Mineralisierungstechnologie bereits an eigenem Abbruchbeton erprobt. Die beiden Holcim-Bilder zu diesem Beitrag wurden im Rahmen des gemeinsamen Testprogramms aufgenommen.

In den mobilen Pilotanlagen wird der recycelte Beton mit verflüssigtem Kohlendioxid versetzt. Das setzt einen chemischen Prozess in Gang, bei dem CO2 in Kalkstein umgewandelt wird. Durch diese „Mineralisierung“ ist es möglich, das Klimagas langfristig zu binden. Dieser Prozess ist in der Baustoffbranche auch als Carbonatisierung bekannt und funktioniert übrigens nicht nur mit Beton, sondern auch mit anderen kalkhaltigen Baustoffen wie zum Beispiel Kalksandstein.

Aktuell kann Neustark mit einem einzelnen Anlagenmodul rund 20 Tonnen Betongranulat pro Stunde mineralisieren. In 24 Stunden lässt sich so viel Kohlendioxid binden, wie beim Heizen eines Einfamilienhauses mit Erdöl durchschnittlich pro Jahr anfällt. Natürlich kann man den Output des Neustark-Verfahrens durch zusätzliche Module steigern. Außerdem arbeitet das Startup intensiv daran, das Verfahren generell noch effektiver zu machen. Zurzeit wird ein zweiter Anlagentyp entwickelt, der die Anlagen der ersten Generation ab 2025 ergänzen soll. So will man dann das Ziel des klimaneutralen Betons erreichen.

Die Herstellung von Beton – und hier insbesondere die Produktion des Bindemittels Zement – verursacht bekanntlich große Mengen Treibhausgase. Die Betonindustrie forscht daher bereits seit Jahren fieberhaft an Betonen mit möglichst geringem Zementanteil oder sucht nach Wegen, die ausgestoßenen Klimagase an anderer Stelle irgendwie zu kompensieren. Das Neustark-Verfahren erscheint in diesem Zusammenhang als vielversprechende CCS-Technologie. Die Abkürzung steht für Carbon Capture and Storage („Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff“).

Natürlich ist die Kohlendioxid-Speicherung in Betongranulat ein industrieller Prozess, der ebenfalls nicht ganz ohne Treibhausgasemissionen auskommt. Laut Neustark ist die Gesamtbilanz aber positiv. Auf der Website des Startups heißt es dazu, dass im Anreicherungsprozess pro 1.000 kg gespeichertem Kohlendioxid lediglich rund 50 kg CO2 neu emittiert werden.

Altbeton aus Rückbauobjekten

Als Rohstoff für den Speicherprozess dient dem Startup der zerkleinerte Altbeton aus Rückbauobjekten. Der fällt in einem modernen Industrieland wie der Schweiz in großen Mengen an. Neustark setzt aber nicht nur deshalb auf recycelten Beton, weil das die Nachhaltigkeit des Verfahrens weiter erhöht. Das gebrochene Rückbaumaterial eignet sich auch einfach sehr gut für die Speicheraufgabe. Es verfügt über eine riesige reaktive Oberfläche aus Calcium-Hydroxid-Mineralien, die ganz von selbst CO2 binden.

Wie viel von dem mit Kohlendioxid angereicherten Recycling-Granulat am Ende in den Frischbeton einfließen kann, lässt sich pauschal nicht beantworten. In der Praxis sind hier von Betonwerk zu Betonwerk Unterschiede zu erwarten. Neustark weiß allerdings von Industriepartnern zu berichten, die mithilfe angepasster Sieb- und Siloanlagen Beton produzieren konnten, bei dem der Kiesanteil zu 100 % durch das Granulat ersetzt wurde. Der Beton soll dadurch keinerlei Qualitätsverlust erleiden, zudem erlauben die Eigenschaften des Granulats die Herstellung von Beton mit relativ geringem Zementanteil.

Neustark liefert seinen Kunden übrigens nicht nur die Speicheranlagen, sondern auch das zu speichernde CO2. Dafür arbeitet man aktuell mit der Ara Region Bern AG zusammen, einem Unternehmen, das für die Abwasserreinigung von zehn Schweizer Gemeinden verantwortlich ist. Dabei fallen große Mengen Kohlendioxid als Nebenprodukt an. Über einen Logistikpartner lässt Neustark dieses klimaschädliche Nebenprodukt in verflüssigter Form mit biogasbetriebenen Lkw zu seinen Kunden aus der Betonindustrie liefern. Die machen es dann unschädlich, indem sie es dauerhaft in ihren Baustoffen speichern.


Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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