RM Rudolf Müller
Je nach Temperatur ändert sich bei diesem Dämmstoff der Durchmesser des Luftkanals.  Foto: Fraunhofer IAP

Je nach Temperatur ändert sich bei diesem Dämmstoff der Durchmesser des Luftkanals.  Foto: Fraunhofer IAP

Forschung, Technik und Trends
21. April 2021 | Artikel teilen Artikel teilen

Forschung: Programmierbare Dämmstoffe

Manche Kunststoffschäume haben ein Formgedächtnis. Sie können sich bei Veränderung äußerer Einflüsse zwar verformen, aber dieser Prozess lässt sich umkehren, wenn man die Ausgangssituation wiederherstellt. Konkret: Ein Schaumstoff dehnt sich bei Erwärmung zunächst aus, nimmt aber wieder die Ausgangsform an, wenn die ursprüngliche Temperatur erneut erreicht wird. Diese spezielle Eigenschaft von Formgedächtnispolymer-Schäumen nutzen Forschende des Fraunhofer-Instituts, um „programmierbare“ Dämmstoffe zu entwickeln.

„Wir entwickeln autarke Dämmstoffsysteme mit einer schaltbaren Luftdurchlässigkeit“, sagt Dr. Thorsten Pretsch, der die Arbeitsgruppe Formgedächtnispolymere am Fraunhofer-Institut für Angewandte Polymerforschung IAP leitet. Zusammen mit Kolleginnen und Kollegen der Fraunhofer-Institute für Chemische Technologie (ICT) und für Bauphysik (IBP) haben Pretsch und sein Team spezielle Schaumstoffe mit integrierten Strömungskanälen entwickelt. In Abhängigkeit von der Außentemperatur verändert sich bei diesen der Durchmesser der Kanäle und damit auch der Wärmedurchgang des Schaumstoffs (siehe Abbildung oben).

Dämmstoffe mit schaltbarer Luftdurchlässigkeit

„Programmierter“ Dämmstoff aus Formgedächtnispolymer-Schaum. Foto: Fraunhofer IAP

„Programmierter“ Dämmstoff aus Formgedächtnispolymer-Schaum. Foto: Fraunhofer IAP

„Bei niedrigen Temperaturen sind die Strömungskanäle geschlossen und weisen einen Isolationseffekt auf, beim Erwärmen öffnen sich die Kanäle und werden besser mit Luft durchströmt“, erläutert Pretsch. Das sei vor allem für Anwendungen interessant, bei denen der Formgedächtnispolymer-Schaum stark wechselnden Außentemperaturen ausgesetzt ist – also zum Beispiel im Bauwesen. Insofern überrascht es nicht, dass die Fraunhofer-Projektgruppe zur Veranschaulichung ihrer Forschungsergebnisse Demonstratoren für den Gebäudebereich entwickelt hat. Diese basieren auf Formgedächtnispolymer-Schäumen mit programmierbarem Materialverhalten.

Bei den Demonstratoren handelt es sich um autark schaltende Schaumstoffe mit Strömungskanälen zur Hinterlüftung der Außenfassade eines Einfamilienhauses. Diese so genannten Aktor-Elemente sind für Häuser mit zweischaliger Gebäudehülle gedacht: Sie ermöglichen einen thermisch schaltbaren Spalt zwischen der Außenschicht und der tragenden Konstruktion des Gebäudes. „Die Aktor-Elemente können in Abhängigkeit der Umgebungstemperatur ihre Form ändern, und auf diese Weise können beispielsweise Luftschlitze entstehen oder wieder verschwinden“, erklärt Dr. Thorsten Pretsch.

Weniger Kühlkosten im Sommer

Im Fall der Aktor-Elemente zur Fassaden-Hinterlüftung ist es so, dass sich die Luftkanäle bei steigender Temperatur vergrößern. Praxisvorteil: Im Sommer kann mehr Luft durch die Kanäle strömen, die Hinterlüftung der Außenfassade verbessert sich. Für die praxisnahe Bewertung der Aktor-Elemente ist das Fraunhofer IBP zuständig. „Unsere Simulationen der hinterlüfteten Fassade eines Mehrfamilienhauses in Madrid zeigen, dass mit den schaltbaren Dämmstoffen in den Sommermonaten die operative Raumtemperatur um 2,5 °C reduziert beziehungsweise bis zu 46 % an Energie für die Kühlung eingespart werden könnte“, sagt Prof. Dr. Martin Krus vom Fraunhofer IBP.

Damit in Zukunft auch größere Mengen des innovativen Dämmmaterials für industrielle Anwendungen zur Verfügung stehen können, arbeitet das Fraunhofer ICT an der Weiterentwicklung von Verfahren für die Skalierung der notwendigen Polymersynthese.

Programmierung in der Materialstruktur

Die synthetisierten Formgedächtnispolymere werden auf speziellen Reaktivschäumanlagen verarbeitet. Foto: Fraunhofer IAP

Die synthetisierten Formgedächtnispolymere werden auf speziellen Reaktivschäumanlagen verarbeitet. Foto: Fraunhofer IAP

Nicht jeder Kunststoff-Schaum verfügt über ein Formgedächtnis und lässt sich in der beschriebenen Weise programmieren. Funktionieren tut das Prinzip nach Fraunhofer-Angaben zum Beispiel mit Polyester-Urethan-Harnstoff. Daraus kann man Formgedächtnispolymer-Schaum herstellen.

Etwas allgemeiner beschreiben die Forschenden programmierbare Materialien auch als form- und funktionsdynamische Stoffe, Materialverbünde oder Oberflächen, deren innere Struktur so beschaffen ist, dass sich ihr Verhalten einem Programm folgend reversibel verändern lässt. Die Antwort eines Materials auf ein äußeres Signal wie beispielsweise eine Temperaturänderung werde vorab fest in die Materialstruktur „einprogrammiert“, umschreiben die Fraunhofer-Institute ihre Methode. Dadurch würden sich die Materialien später autark und automatisch, aber in vorbestimmter Weise an veränderte Umweltbedingungen anpassen.

Verschiedene Eigenschaften festlegbar

Für seine programmierbaren Dämmstoffe hat das Fraunhofer-Team Formgedächtnispolymere mit Strömungskanälen kombiniert, deren Dimension sich aufgrund der Schaltfähigkeit des Schaumstoffs verändern lässt. Die Folge kann sein, dass bei hoher Umgebungstemperatur warme Luft relativ gut durch das Material strömt, während sich die Strömungskanäle bei kalter Luft zunehmend verschließen. Es kann aber auch umgekehrt sein, das hängt von der Programmierung ab.

Bei dem was die Forschenden Programmierung nennen, handelt es sich um eine „thermomechanische“ Behandlung des Materials. Diese sorgt dafür, dass der Schaumstoff imstande ist, thermoreversibel seine Form zu ändern. Bei welcher Temperatur die reversible Formänderung ausgelöst wird und in welche Richtung sie geschieht, können die Forschenden durch die Art der thermomechanischen Materialbehandlung von Fall zu Fall individuell festlegen.


Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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