RM Rudolf Müller
Erfinder Ludwik Leibler mit einer Materialprobe aus Vitrimer-Kunststoff. Foto: Europäisches Patentamt

Erfinder Ludwik Leibler mit einer Materialprobe aus Vitrimer-Kunststoff. Foto: Europäisches Patentamt

Grundstoffe des Bauens
23. August 2016 | Artikel teilen Artikel teilen

Aus der Forschung: Vitrimere – die neue Kunststoffklasse

Der französische Physiker Ludwik Leibler hat vor ein paar Jahren eine neue, glasartige Kunststoffklasse erfunden. So genannte Vitrimere vereinen die leichte Verformbarkeit und Recycling-Fähigkeit von Thermoplasten mit der Stabilität von Duroplasten. Und sie ermöglichen „selbstheilende“ Kunststoff-Werkstoffe.

Für die Erfindung der Vitrimere wurde Ludwik Leibler 2015 mit dem Europäischen Erfinderpreis ausgezeichnet, der vom Europäischen Patentamt jedes Jahr in verschiedenen Kategorien vergeben wird. Empfänger der renommierten Auszeichnung sind Erfinder, die mit ihren Arbeiten einen außerordentlichen Beitrag zum gesellschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Fortschritt geleistet haben. Das scheint im Fall von Leibler nicht übertrieben, denn seine Vitrimere könnten in Zukunft unter anderem dazu beitragen, das Problem der wachsenden Plastikmüll-Berge einzudämmen.

Recycel- und reparierbar

Der Franzose hat nämlich eine neue Kunststoffklasse entwickelt, die nicht nur zu 100 Prozent recycelbar, sondern auch reparierbar und darüber hinaus auch noch äußerst stabil ist. Der Kunststoff ist in festem Zustand sehr belastbar, lässt sich aber zugleich unter Hitzeeinwirkung immer wieder problemlos verformen. Das ermöglicht die Herstellung „selbstheilender“ Produkte, die bei Materialbeschädigungen leicht zu reparieren sind. Das Besondere: Vitrimere gehen bei Hitzezufuhr von ihrer festen Form in eine geschmeidige, biegsame, nahezu verflüssigte Konsistenz über, doch auch in dieser Form verlieren die Kunststoff-Moleküle niemals ihren Zusammenhalt. Sie ähneln diesbezüglich Glas.

Vitrimere bestehen aus molekularen Netzen, deren Bindungen nicht starr und dauerhaft sind, sondern sich in einem dynamischen Gleichgewicht befinden: Bei Hitzezufuhr lösen sich zwar einige der Bindungen auf, doch zugleich entstehen an anderer Stelle wieder neue zwischenmolekulare Bindungen. Vitrimere haben also die Eigenschaft, dass sie ihre Molekularbindungen ändern können, ohne dass sich zu irgendeiner Zeit die Gesamtzahl der Bindungen und damit der Zusammenhalt des Materials verringert.

Das beste aus zwei Welten

Vitrimere kombinieren die typischen Eigenschaften bisher unvereinbarer Kunststoffklassen. Sie sind im festen Zustand hart wie Duroplaste, lassen sich aber gleichzeitig unter Hitzeeinwirkung wie Thermoplaste neu verformen. Wobei sie diesbezüglich eher noch den Gläsern gleichen: Im „geschmeidigen“ Zustand kann man sie in jede beliebige Form bringen, ohne dass dabei Kunststoff-Material abtropft.

Obwohl Vitrimere die positiven Eigenschaften von Duroplasten (Materialhärte) und Thermoplasten (Verformbarkeit) in sich vereinbaren, haben sie nicht auch deren negative Eigenschaften übernommen. Leiblers neuartige Polymere werden nicht – wie Duroplaste – mit der Zeit spröder und brüchiger. Und anders als Thermoplaste – die man im Baustoffbereich etwa in Form von Polyethylen (PE) für Folienwerkstoffe und Rohre verwendet – sind sie nicht anfällig gegenüber Chemikalien. Vitrimere vereinen also nur das Beste aus zwei Welten.

Vielfältige Anwendungen denkbar

Vitrimere lassen sich wie Glas immer wieder beliebig verformen. Foto: Europäisches Patentamt

Vitrimere lassen sich wie Glas immer wieder beliebig verformen. Foto: Europäisches Patentamt

Aufgrund ihrer Härte und Verformbarkeit könnten Vitrimere künftig beispielsweise als leichte und strapazierfähige Materialalternative zu Glas und Metall verwendet werden. Aber natürlich könnten sie auch herkömmliche Kunststoffe ersetzen. Entsprechend riesig sind die potenziellen Einsatzbereiche. Schließlich ist unsere Lebenswelt voll von Konsumgütern aus Kunststoff. Und auch im Bauwesen wimmelt es überall von Polymeren. Man findet sie zum Beispiel bei Fensterrahmen, Dach- und Dichtungsbahnen, Hartschaum-Dämmstoffen und Fußbodenbelägen, aber auch in Fugenmassen, Bindemitteln oder Klebstoffen.

Zu den interessantesten Einsatzgebieten zählt die Verwendung von Vitrimeren als Ersatz für Epoxidharze, die zur Klasse der Duroplaste gehören. Im Baustoffbereich werden diese zum Beispiel in Fliesenklebern verwendet. Doch auch viele Bauteile in Flugzeugen und Autos sowie viele Sportgeräte bestehen zu großen Teilen aus Epoxidharz.

Nachhaltiges Material

Gerade im Vergleich zu Epoxidharz punktet die neue Kunststoffklasse mit ihren nachhaltigen Eigenschaften. Wenn herkömmliches Epoxid einmal in Form gebracht wurde, lässt es sich anschließend nicht mehr schmelzen, also auch nicht recyceln. Alte Surfbretter aus Epoxidharz landen deshalb Jahr für Jahr massenhaft auf dem Müll.

Mit Vitrimeren ließe sich das vermeiden. Kaputte Kunststoffprodukte müssten nicht so schnell weggeworfen werden, denn sie wären einfach zu reparieren. Das könnte nicht nur Müllhalden, sondern vor allem auch die Weltmeere entlasten. Denn bei etwa 90 % des Mülls, der heute auf den Ozeanen treibt, handelt es sich um Plastik, das irgendwann von Meerestieren aufgenommen wird und an dem diese oft qualvoll verenden.


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Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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