RM Rudolf Müller
Detailaufnahme vom Pavillon: In manchen Bereichen ist der Beton dichter als in anderen – je nach Belastungsgrad.

Detailaufnahme vom Pavillon: In manchen Bereichen ist der Beton dichter als in anderen – je nach Belastungsgrad.

Grundstoffe des Bauens
07. August 2018 | Artikel teilen Artikel teilen

Was ist Gradientenbeton?

Tragende Bauteile im Gebäudebereich bestehen heute oft aus Beton. Das gilt insbesondere für Geschossdecken, oft aber auch für Außenwände. Neben vielen Vorteilen hat der moderne Massenbaustoff einen großen Nachteil: Er ist ziemlich schwer. Forscher arbeiten daher schon seit Längerem an der Entwicklung tragender Betonbauteile mit deutlich geringerem Gewicht. Eine vielversprechende Entwicklung ist der so genannte Gradientenbeton.

Die Bauforschung beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit Leichtbau-Konstruktionen. Das Interesse am Leichtbau ist kein Wunder: Immerhin schlummern hier große Zukunftschancen für das Bauen von Morgen. Das Prinzip eröffnet umfangreiche Material- und Energieeinsparungs-Potenziale bei Herstellung, Transport und Verarbeitung von Baustoffen. Das würde dann auch die CO2-Bilanz im Gebäudebereich deutlich verbessern.

Auf breiter Front durchsetzen wird sich der Leichtbau aber vermutlich nur dann, wenn es auch Lösungen für tragende Bauteile gibt und wenn der Massenbaustoff Beton ein Teil der Lösung ist. Beides wird gewährleistet durch die Idee des Gradientenbetons, der am Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Universität Stuttgart erfunden wurde.

Grundprinzip

Rosenstein-Pavillon: Dieses filigrane Ausstellungsobjekt besteht durch und durch aus Gradientenbeton. Fotos: ILEK Stuttgart

Rosenstein-Pavillon: Dieses filigrane Ausstellungsobjekt besteht durch und durch aus Gradientenbeton. Fotos: ILEK Stuttgart

Der Begriff Gradientenbeton leitet sich vom Verb „gradieren“ ab. Das bedeutet so viel wie „gradweise abstufen“, „in Grade einteilen“ und bezieht sich auf den inneren Aufbau von Bauteilen aus Gradientenbeton. Während zum Beispiel Decken und Wände aus Normalbeton durch und durch aus demselben Material bestehen, hat Gradientenbeton die besondere Eigenschaft, dass sich die Zusammensetzung des Materials im Bauteilinneren verändert. Bereiche, in denen die Betonmatrix sehr fest und dicht ist, gehen zum Beispiel stufenlos in deutlich leichtere, porösere Bereiche über.

Diese stufenlose Änderung der Porosität hat den Vorteil, dass man Materialeigenschaften in ein und demselben Betonbauteil fließend verändern kann. In Bereichen, wo eine besonders hohe Tragfähigkeit gefragt ist, wird man sich für eine dichtere, schwerere Betonmischung entscheiden. In anderen Bereichen dagegen kann man dagegen die Porosität erhöhen und damit nicht nur das Gewicht senken, sondern auch die Wärmedämmung verbessern.

Gradientenbeton steht also für eine neue Variante des Kunststeins, bei der man die Materialeigenschaften innerhalb von Betonbauteilen stufenlos „gradiert“. So lässt sich die materielle Zusammensetzung in unterschiedlichen Bereichen des Bauteils flexibel an die jeweiligen äußeren Beanspruchungen und Belastungen anpassen. Das Mittel dazu ist eine gezielte Manipulation der Materialdichte im Bauteilinneren.

Anwendungen

In der Baupraxis spielt Gradientenbeton bisher noch keine Rolle. Das Material ist noch im Entwicklungsstadium. Das ILEK erprobt aber natürlich Praxiseinsätze im Labormaßstab und entwickelt Bauteil-Prototypen. So hat das Institut kürzlich zum Beispiel in Zusammenarbeit mit weiteren Kooperationspartnern einen Pavillon komplett aus Gradientenbeton entworfen, der als Exponat in der Ausstellung „Baubionik – Biologie beflügelt Architektur“ am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart zu sehen war (siehe Fotos).

Natürlich ist dieser so genannte Rosenstein-Pavillon eher ein singuläres Kunstobjekt, aber er verdeutlicht gut, was Gradientenbeton heute schon leisten kann. Ein derartig schwerelos und filigran wirkendes skulpturales Bauwerk, dessen vier Betonstützen sich zudem nach unten extrem verjüngen, wäre mit Normalbeton nicht zu realisieren. Möglich wurde die „luftige“, aber zugleich sehr stabile Konstruktion durch die funktionale Gradierung der Porosität. „In hoch belasteten Bereichen, in denen mehr Material benötigt wird, sind die Poren kleiner. Umgekehrt wird die Porosität an Stellen mit geringer Belastung erhöht, was den Materialeinsatz reduziert“, erklärt Architektin Daria Kovaleva vom ILEK.

Aber auch für die tägliche Baupraxis könnte Gradientenbeton künftig eine Rolle spielen. Sinnvoll scheint insbesondere der Einsatz bei Bauteilen für Decken und Balken. Aber auch für tragende Außenwände ist die Technologie interessant. Wände aus Gradientenbeton, die in ihren Außenbereichen sehr dicht und tragfähig sind, zugleich in der Mitte aber einen poröseren „Dämmkern“ enthalten, könnten zum Beispiel als schlanke Alternative zu mehrschichtigen Wärmedämmverbundsystemen eingesetzt werden. Das hätte unter anderem auch den Vorteil, dass sich die Wände später sortenrein recyceln lassen.

„Die Anwendung der Gradientenbeton-Technologie ist dann vielversprechend, wenn Bauteile keinen homogenen Spannungszustand aufweisen oder wenn das Bauteil sowohl lastabtragende als auch bauphysikalische Anforderungen erfüllen muss“, heißt es im Praxis-Leitfaden „Leichtbau im Bauwesen“, den das ILEK zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Bauphysik IBP veröffentlicht hat. Im selben Leitfaden wird geschätzt, dass sich das Gewicht von Bauteilen bei Einsatz von Gradientenbeton um 30 bis 45 % verringern ließe – je nach Einsatzbereich. Außerdem glauben die Forscher an eine Reduzierung der Material- und Energiekosten von über 27 %.

Herstellung

Wie aber „gradiert“ man eigentlich Betonbauteile? Wie kommen die unterschiedlichen Porositätsgrade in das Bauteilinnere? Für die Erzeugung der Poren an sich bieten sich verschiedene Verfahren an: Möglich ist zum Beispiel die Beimischung mineralischer Leichtzuschläge beziehungsweise Hartschaumkugeln, die Verwendung unterschiedlicher Betonrezepturen oder auch die Erzeugung von Luftporen in der Betonmatrix.

Für die Herstellung von Bauteilen aus Gradientenbeton hat das Stuttgarter ILEK ein spezielles Simultan-Sprühverfahren entwickelt und patentieren lassen. Dabei werden die verschiedenen Betonmischungen oder Zuschläge automatisch genau an den vorab definierten Stellen im Bauteil aufgetragen. So lassen sich Gradientenbeton-Elemente schnell und wirtschaftlich herstellen.


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Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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