
Der Büroneubau in München-Gräfelfing wurde im November 2021 fertiggestellt. Foto (4): Heiko Stahl
Bürohaus ohne Heizung und Klimaanlage
Ist es möglich, in Deutschland ein ganzjährig behagliches Gebäude ohne Heizung und Klimaanlage auf wirtschaftliche Weise zu realisieren? Bei einem Ende 2021 fertiggestelltem Bürohaus in München-Gräfelfing scheint das gelungen zu sein. Die Gebäudehülle besteht aus zweischaligem Ziegelmauerwerk, die sonst übliche Haustechnik hat man sich einfach gespart.
Der fünfgeschossige Neubau dient als neue Hauptverwaltung des Reifenhändlers Heinrich Nabholz KG. Der Bauherr wünschte sich an seinem Standort im Westen Münchens ausdrücklich ein besonders nachhaltiges Bürogebäude. „Die Idee, beim Neubau ganz auf die Heiz- und Klimatechnik zu verzichten, ergab sich nach und nach im engen Austausch mit dem Auftraggeber – aus ökologischen und ökonomischen Gründen“, erklärt Architekt Bernd-Simon Schwarz vom Schwarz Architekturbüro (Altdorf). „Neben den hohen Anschaffungs- und Installationskosten hat auch der Wegfall der erheblichen Wartungskosten von Heiz- und Klimatechnik zu dieser Entscheidung beigetragen.“
Natürliches Lüftungskonzept

Hölzerne Überströmelemente im Innenbereich ermöglichen eine dauerhafte Querlüftung trotz räumlicher Abtrennungen.
Der Verzicht auf die übliche Haustechnik wirkt – gerade bei einem Bürogebäude – im ersten Moment ungewöhnlich. Tatsächlich lässt sich ein ganzjährig angenehmes Raumklima aber auch nur mit wärmetechnisch optimierten Außenwänden und Decken sowie einer lüftungstechnisch durchdachten Innenraumkonzeption erzielen. Und das nicht nur in der Theorie, es gibt dafür auch bereits praktische Vorbilder.
Für die Planung des Projekts der Heinrich Nabholz KG arbeiteten die Architekten eng mit dem Bauphysiker Dr. Peter Widerin zusammen, der bereits vor etwa zehn Jahren das Konzept für das „Bürohaus 2226“ im österreichischen Lustenau maßgeblich mitentwickelt hat. Die Ziffern im Namen dieses 2013 fertiggestellten Gebäudes stehen für die einzuhaltende Raumtemperatur von 22 bis 26 °C. Diese erreicht das Bauwerk mithilfe von zweischaligem Ziegelaußenmauerwerk, aber ganz ohne Heiz- und Klimatechnik.
Keine Frage: Das Bürohaus 2226 war ein Vorbild für das Projekt in München-Gräfelfing. „Bei der Raumkonzeption gingen wir jedoch andere Wege“, betont Architekt Schwarz. „Rund 70 % der Fläche wird künftig an Fremdnutzer vermietet. Daher wollten wir nicht nur Großraumbüros umsetzen, sondern auch abgeschlossene Büroeinheiten ermöglichen.“
Eine wichtige Voraussetzung für die Realisierung des innovativen Klimatisierungskonzepts in dem Neubau mit seinen 2.800 m² Nutzfläche war gleichwohl die Schaffung eines großen, zusammenhängenden Raumes mit freier Luftzirkulation sowie steuerbaren, motorisierten Fensterklappen, die eine ausreichende Frischluftzufuhr sicherstellen. An etlichen Innenwänden hat man daher Überströmelemente aus Holz eingebaut, sodass trotz der räumlichen Abtrennung einzelner Büroräume eine dauerhafte Querlüftung möglich ist.
Außenwand aus Coriso-Ziegeln

Die Außenwandkonstruktion ist insgesamt 65 cm stark.
Wie beim Bauwerk in Lustenau entschied man sich bei der Außenwandkonstruktion für ein zweischaliges Ziegelmauerwerk. Porosierte Ziegel überzeugen sowohl in Sachen Wärmedämmung als auch bei der Wärmespeicherfähigkeit.
Da sich jeder Zentimeter eingesparter Außenwanddicke in zusätzlicher Nutzfläche auszahlt, kamen beim Münchner Bürohaus dämmstoffgefüllte „Coriso“-Ziegel von Unipor zum Einsatz. So ließ sich die Gesamtstärke der Gebäudehülle im Vergleich zum österreichischen Vorbild deutlich senken. Während beim Bürohaus 2226 die Dicke der Gebäudehülle noch 81,8 cm betrug, ist es beim Münchener Projekt etwa ein Viertel weniger.
Die verwendeten Ziegel-Mauersteine lieferten die Ziegelwerke Leipfinger-Bader. Das niederbayerische Unipor-Mitglied fertigt die mineralisch gefüllten Coriso-Mauerziegel an seinem Standort in Mainburg-Puttenhausen im Landkreis Kelheim – nur knapp 80 km von München entfernt. Diese regionale Nähe war beim Büroprojekt in München-Gräfelfing ein weiterer Pluspunkt in Sachen Nachhaltigkeit.
Im Detail bestehen die Außenwände des Bürohauses aus einer 30 cm starken Außenschale – bestehend aus „Unipor WS08 Coriso“-Ziegeln – und einer ebenfalls 30 cm dicken Innenschale mit „Unipor WS10 Coriso“-Ziegeln. Die beiden Mauerschalen werden durch eine 1,5 cm dicke Mörtelfuge getrennt. Hinzu kommen 2 cm Kalkzementputz auf der Außenseite und 1,5 cm Kalkputz auf der Innenseite. Insgesamt ist die Außenwandkonstruktion also 65 cm stark.
Diese Wandkonstruktion erreicht – ohne vollflächige Zusatzdämmung – einen Wärmedurchgangskoeffizienten (U-Wert) von nur 0,143 W/(m²K). Aufgrund ihres ausgeklügelten Lochbildes verfügen die Ziegel zudem über eine hohe Druckfestigkeit. Die lastabtragende WS10-Innenschale kann Druckkräfte bis zu 5 MN/m² „ertragen“ (Festigkeitsklasse 12). Das reicht auch für mehrgeschossige Bauten mit fünf Geschossen.
Realitätsnahe Wärmebrücken-Simulation

Die fünf Stockwerke wurden aus Coriso-Ziegelmauerwerk von Leipfinger-Bader errichtet.
Die Projektverantwortlichen gaben beim Energieverbrauch den Standard Effizienzhaus 55 für Nichtwohngebäude vor. Statt energiezehrender Heiztechnik werden zur Erwärmung der Büroräume ausschließlich Quellen wie Lampen und PCs und die Körperwärme der anwesenden Mitarbeiter genutzt.
Die aus solchen Quellen gespeiste Abwärme wird in den massiven Ziegelwänden zwischengespeichert und zeitverzögert an den Innenraum abgegeben. Ähnliches gilt aufgrund ihrer hohen Speicherkapazität für die 24 cm dicken Stahlbeton-Fertigteildecken mit ihrer Sichtbetonunterseite. Sie wirken in den Sommermonaten wie ein Kältespeicher und tragen so ebenfalls zur angenehmen Raumtemperatur bei.
Der besondere Einfluss der Gebäudehülle auf das Raumklima erforderte zudem die Minimierung von Wärmebrücken. Deshalb wurden in allen relevanten Anschlussbereichen an die Außenwand – beispielsweise zwischen Fensteröffnungen und Mauerwerk sowie bei der Anbindung der Dachhaut – effiziente Dämmlösungen verwirklicht. Deren Wirksamkeit hat man vorab durch eine realitätsnahe Wärmebrücken-Simulation rechnerisch überprüft.
Der Aufwand hat sich gelohnt: Unter Berücksichtigung aller zu erwartenden Wärmelasten konnte nachgewiesen werden, dass wie gewünscht eine ganzjährige Raumtemperatur von 22 bis 26 Grad Celsius erreicht wird.
Zukunftsweisendes Gebäudemodell

Der Grundriss verdeutlicht die Raumaufteilung im Bürogebäude. Grafik: Architekturbüro Schwarz
Die plangeschliffenen und mit deckelndem Dünnbettmörtel effizient zu verlegenden Coriso-Ziegel lassen sich trotz der integrierten Füllung verarbeiten wie herkömmliche Planziegel. Sind Zuschnitte erforderlich, kann man sie nämlich problemlos sägen oder anbohren. Dank der guten Zusammenarbeit aller Baubeteiligten wurde das Bürohaus – als erstes Gebäude seiner Art in Deutschland – termingerecht bis Ende November 2021 fertiggestellt. Baubeginn war im Januar 2020.
Bereits im November zogen auch die ersten Gebäudenutzer ein. „Die Wintermonate waren sozusagen der erste Härtetest“, sagt Architekt Schwarz. „Wir haben bei der Planung auch berücksichtigt, dass die individuellen Ansprüche an Behaglichkeit sehr unterschiedlich sind. So wurde für warme Sommermonate ein außenliegender Sonnenschutz aus Raffstores eingeplant, obwohl er als Hitzeschutz nach den durchgeführten Berechnungen nicht erforderlich ist.“
Der energiesparende Verzicht auf Heizung und Kühlung wird ergänzt durch die Nutzung regenerativer Energie. Dafür sind auf der Dachfläche Photovoltaik-Module mit einer Gesamtleistung von 60 Kilowatt Peak vorgesehen. Sie sollen unter anderem 16 in den Parkdecks installierte Schnell-E-Ladesäulen direkt bedienen. Schwarz hofft für die Zukunft, dass das Gräfelfinger Bürohaus zu einem Gesinnungswandel bei der Gebäudeplanung beiträgt: weg von der technischen Überfrachtung eines Bauwerks, zurück zu möglichst wartungsfreien Gebäuden mit geringen Folgekosten.
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