RM Rudolf Müller
Quo vadis, Berufsbildung? Das Diskussionspapier zeigt Wege auf.  Foto: Pixabay

Quo vadis, Berufsbildung? Das Diskussionspapier zeigt Wege auf.  Foto: Pixabay

Hintergrundwissen
08. Juni 2022 | Artikel teilen Artikel teilen

Wie gelingt bessere Berufsbildung?

Das Bundesinstitut für Berufsbildung hat zusammen mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ein wissenschaftliches Diskussionspapier zur Weiterentwicklung der Berufsbildung veröffentlicht. Es enthält Handlungsempfehlungen für ein Aus- und Weiterbildungssystem der Zukunft, das den gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit besser gerecht wird.

Deutschland benötigt dringend mehr qualifizierte Fachkräfte. Nur mit ausreichend beruflichem Know-how wird es beispielsweise gelingen, die geforderten Solaranlagen und Windräder zu montieren, die angekündigte Wohnungsbauoffensive in die Tat umzusetzen oder die Digitalisierung in Wirtschaft und öffentlichen Diensten voranzutreiben. Da unsere Gesellschaft immer älter wird, entsteht zudem ein wachsender Fachkräftebedarf in den Gesundheits- und Pflegeberufen.

Zugleich zeigen die Ausbildungsvertragszahlen der letzten Jahre eine alarmierende Tendenz: Immer weniger junge Menschen entschieden sich für eine duale berufliche Ausbildung. Der steigenden Nachfrage steht also ein sinkendes Angebot gegenüber. Bereits seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 ist die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge in Deutschland rückläufig, 2020 lag sie erstmals seit 1992 wieder unter 500.000. Das ist fatal, denn die fehlenden Azubis von heute sind die fehlenden Fachkräfte von morgen.

Reformbedürftige Berufsbildung

Die 72-seitige Publikation ist im April 2022 erschienen.

Die 72-seitige Publikation ist im April 2022 erschienen.

Die geschilderte Problematik war ein wesentlicher Anlass für das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe über die Zukunft der deutschen Berufsbildung nachzudenken. Als Ergebnis wurde im April das Diskussionspapier „Wir müssen zukunftsfähig bleiben! 9+1 Thesen zur Weiterentwicklung der Berufsbildung“ veröffentlicht, das hier zum kostenlosen Download bereitsteht.

Das Papier der siebenköpfigen Arbeitsgruppe entstand unter Leitung von BIBB-Präsident Prof. Dr. Friedrich Hubert Esser und Prof. Dr. Karl Wilbers, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung an der FAU. Es enthält neun Thesen, aus denen Handlungsempfehlungen für die berufliche Bildung der Zukunft abgeleitet werden. Außerdem werden grundlegende Prinzipien formuliert, die aus Sicht der Arbeitsgruppe eine moderne Berufsbildung ausmachen. Diese hat man den Thesen als „+1-Komponente“ vorangestellt.

„Angesichts der Bedingungslage und der Herausforderungen, die die Transformation mit sich bringt, muss die berufliche Bildung zwingend zukunftsfester werden“, betont BIBB-Präsident Friedrich Hubert Esser und fügt hinzu: „Wir dürfen uns dabei nicht scheuen, auch neue Wege zu gehen!“ Wie ein Aus- und Weiterbildungssystem der Zukunft aussehen könnte, das „den gestiegenen Anforderungen einer dynamischen, sich zunehmend digitalisierenden Wirtschaft und Gesellschaft“ gerecht wird, verdeutlicht die Arbeitsgruppe mit ihren Thesen und Handlungsempfehlungen.

Mehr Praxisorientierung an den Schulen

Wir können in diesem Beitrag nicht alle Thesen des Diskussionspapiers ausführlich besprechen. Wer sich dafür interessiert, findet auf der Website des BIBB auch eine 20-seitige Kurzfassung des Papiers (Direktlink zum PDF). An dieser Stelle wollen wir nur ein paar ausgewählte Ergebnisse beleuchten.

Die Arbeitsgruppe von BIBB und FAU hat sich zum Beispiel mit der beruflichen Orientierung beschäftigt. Diese sei angesichts einer komplexeren Arbeitswelt herausfordernder geworden. Insbesondere die Verunsicherungen am Übergang von Schule zu Beruf hätten zugenommen. Berufliche Orientierungsphasen seien zudem immer häufiger ein biografisches Langzeitprojekt – inklusive mehrfacher Um- und Neuorientierungen.

Die Arbeitsgruppe von BIBB und FAU fordert daher unter anderem, dass die berufliche Orientierung künftig auch an Gymnasien und beruflichen Schulen eine breite und fächerübergreifende Verankerung erfahren sollte. Berufs- und Studienorientierung seien gleichberechtigt zu behandeln, die Vielfalt der Berufswelt müsse systematisch aufgezeigt werden. Zudem sollten bereits in der Schule häufiger Praktika ermöglicht werden, damit „Berufswahlinteressen letztlich zu Berufswahlentscheidungen werden“. Dies solle spätestens ab Klasse 7 geschehen und möglicherweise sogar mehrfach innerhalb eines Schuljahres!

Erfolgreiche Berufsorientierungsprozesse bereits in der Regelschule setzen freilich voraus, dass das damit betraute Personal entsprechend qualifiziert ist. Das Diskussionspapier fordert daher eine einheitliche fachliche und pädagogische Qualifizierung des Bildungspersonals zu Fragen der beruflichen Orientierung – sowohl für Studierende in Lehramtsstudiengängen als auch für bereits aktive Lehrkräfte.

Übergangssystem als Chancenverbesserungssystem

Auch die Dekarbonisierung der Gesellschaft erfordert viele neue Fachkräfte. Foto: Pixabay

Auch die Dekarbonisierung der Gesellschaft erfordert viele neue Fachkräfte. Foto: Pixabay

Das Diskussionspapier thematisiert auch das so genannte Übergangssystem, in dem viele junge Menschen nach dem Abgang von der allgemeinbildenden Schule und vor einem späteren Einritt in eine berufliche Ausbildung zunächst landen. Gemeint sind damit die zahlreichen Angebote, die zum Beispiel ein Nachholen oder Verbessern von Schulabschlüssen ermöglichen oder die Teilnehmer anderweitig auf eine berufliche Ausbildung vorbereiten.

Aus Sicht der Arbeitsgruppe hat dieses Übergangssystem durchaus das Potenzial, mehr zu sein als eine lediglich zeitüberbrückende Notlösung für Schulabgänger, die nicht sofort einen Ausbildungsplatz bekommen. Dafür müsse es allerdings verstärkt als „Chancenverbesserungssystem“ positioniert sowie als sinnvoller Zwischenschritt in die Berufsausbildung ausgestaltet werden.

Das Diskussionspapier fordert in diesem Zusammenhang unter anderem, die Angebote stärker an den individuellen Bedarfen und Plänen der Jugendlichen auszurichten. Die Akzepttanz des Übergangssystems müsse zudem durch Dualisierung gestärkt werden. Neben schulische sollten also auch hier betriebliche Lernphasen treten.

Zielgruppenorientiertere duale Ausbildung

Aber auch die Angebote der dualen Berufsausbildung selbst sollten nach Ansicht der Arbeitsgruppe von BIBB und FAU flexibler werden. Für besondere Zielgruppen – etwa Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund, Schulabgänger mit schlechteren Startchancen oder auch Umschüler und Quereinsteiger – wären zum Beispiel Teilzeitausbildungen und Verlängerungsmöglichkeiten der Ausbildungszeit sinnvoll.

Zugleich müsse es aber auch mehr Ausbildungsangebote geben, die auf leistungsstarke Zielgruppen zugeschnitten sind – etwa durch eine Kombination von Berufsausbildung und zusätzlicher Weiterbildung. Auch eine verstärkte regionale Zusammenarbeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung wird empfohlen, etwa in Form dualer Studiengänge. Zu den Handlungsempfehlungen des Papiers zählt ferner der Vorschlag, für jeden Ausbildungsberuf branchenspezifische Ausbildungsmodule vorzusehen, die eine unternehmerische Tätigkeit und damit die Förderung der Selbstständigkeit als Perspektive erschließen und stärken.

Niederschwellige berufliche Fortbildung

Kritisch sieht die Arbeitsgruppe auch die formale berufliche Weiterbildung – also die berufliche Fortbildung nach abgeschlossener Ausbildung. Diese genüge „derzeit ihrem gesetzlich zugewiesenen Anspruch einer höherqualifizierenden Berufsbildung in Deutschland nur unzureichend“.

Das Diskussionspapier kritisiert insbesondere, dass die formale berufliche Weiterbildung in der Regel lehrgangsförmig organisiert und nicht mit konkreten betrieblichen Problem- und Handlungssituationen verknüpft sei. Dies müsse geändert werden, auch in der beruflichen Fortbildung sollte „die Dualität als Prinzip beruflicher Bildung“ zum Tragen kommen.

Um einen niederschwelligen Einstieg in solche Weiterbildungen zu ermöglichen und sie besser mit der Berufspraxis vereinbar zu machen, empfiehlt die Arbeitsgruppe zudem eine stärkere Modularisierung der Angebote. Als Vorbild wird hier die Meisterprüfung im Kfz-Handwerk genannt. Diese ist in vier Teile gegliedert, die unabhängig voneinander absolviert werden können.

Auch für das Bildungspersonal in den Betrieben wünscht sich die Arbeitsgruppe niedrigschwellige und passgenaue Weiterbildungsangebote. Die derzeitigen Standardangebote auf diesem Gebiet würden den erhöhten Anforderungen nicht mehr genügen. Das Bildungspersonal benötige nicht zuletzt neue Kompetenzen, um die zum Ausbildungsjahr 2021 in Kraft getretenen modernisierten Standardberufsbildpositionen auch tatsächlich vermitteln zu können. Die Arbeitsgruppe empfiehlt zudem die Einrichtung einer bundesweiten digitalen Plattform „Weiterbildung“ für das Bildungspersonal in der beruflichen Bildung.


Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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