Mitten in der Altstadt von Ulm wurde Anfang Februar die weltweit erste Brücke aus Flachfaser-Verbundwerkstoff eingeweiht, die nicht nur Fußgänger und Radfahrer, sondern auch Autos tragen kann. Der Brückenkörper und das Geländer bestehen größtenteils aus Flachsfasern, die von einem Bioharz-Bindemittel zusammengehalten werden. Das Bauwerk gilt als Meilenstein beim Einsatz nachwachsender Rohstoffe als Baumaterial in tragenden Strukturen.
Die 9 m lange und 5 m breite Brücke wurde am 7. Februar eingeweiht und überspannt – nur wenige Schritte vom Ulmer Münster entfernt – den Fluss „Kleine Blau“. Das Bauwerk ersetzt eine alte, in die Jahre gekommene Brücke und entstand im Rahmen des EU-geförderten Forschungsprojekts „Smart Circular Bridge“. Dieses Projekt wird von der Technischen Universität Eindhoven in Zusammenarbeit mit 14 Projektpartnern geführt, aus Deutschland ist unter anderem die Universität Stuttgart dabei.
Leicht und tragfähig zugleich
Die erste „Smart Circular Bridge“ wurde bereits 2022 im niederländischen Almere in Betrieb genommen – allerdings nur als Fußgängerbrücke. In Ulm entstand nun die erste Brücke aus Flachfaser-Verbundwerkstoff, die auch für Automobile bis 12 t ausgelegt ist und daher auch von Wartungsfahrzeugen befahren werden kann.

Aufgrund des ungewöhnlichen Materials wiegt die Brücke nur 5 t – weniger als 100 kg pro Quadratmeter –, zugleich kann sie aber bis zu 24 t tragen. Trotz des geringen Gewichts kann es der Flachsfaserverbund in Sachen Festigkeit und Steifigkeit durchaus mit den deutlich schwereren Baustoffen Stahl und Beton aufnehmen. Zugleich ist das Material aber 100 % korrosionsbeständig.
Mit all diesen Eigenschaften ähnelt der neue Flachsfaser-Verbundwerkstoff dem Material GFK (glasfaserverstärkter Kunststoff), aus dem auch schon Brücken gebaut wurden. Er ist aber nachhaltiger, da er aus nachwachsenden Rohstoffen hergestellt wird. Im Vergleich zu Kunststoff und erst recht im Vergleich zu Beton und Stahl punktet der Flachsfaserverbund mit einem geringeren CO2-Fußabdruck.
Flachs ist eine der ältesten Kulturpflanzen der Welt und gilt als äußerst strapazierfähig und reißfest. Seit Tausenden von Jahren werden die Fasern der Pflanze zur Herstellung von Kleidung, Säcken und haltbaren Schiffstauen verwendet. Aber auch für Naturdämmstoffe eignen sich die Pflanzen.
Brückenkörper und Geländer
Die Smart Circular Bridge in Ulm besteht aus einem Unterbau, der Brückendeckplatte und den beidseitigen Geländern. Das Deckplatten-Sandwich wird von unterseitigen Rippen getragen.

Viele der neuen Bauteile sehen auf den ersten Blick wie Beton aus – doch der Schein trügt. Stattdessen kam fast überall der Verbundwerkstoff aus Flachsfasern – oder genauer gesagt: Flachfasermatten – und biobasiertem Polyesterbindemittel zum Einsatz. Bei der Herstellung spielte zudem recycelter PET-Schaum eine Rolle. Für die Fahrbahnoberfläche kam ein robustes Beschichtungssystem zum Einsatz, das die darunterliegenden Flachsfasern schützt.
Beim Brückenkörper handelt es sich also im Wesentlichen um eine Kombination aus Fasermatten und Harz. Man könnte auch sagen: um einen faserverstärken (Bio-)Kunststoff. Der Anteil des Bioharz-Bindemittels macht in Ulm etwa 60 % aus. Die Naturfasermatten sorgen hauptsächlich für die Festigkeit, das Bioharz dient als Klebstoff.
Der Brückenkörper wurde komplett im Werk vorgefertigt. In einem ersten Schritt legt man eine Negativform des Brückenelements mit Matten aus Flachsfasern aus. Darauf werden die recycelten Kunststoff-Hartschaumblöcke dicht an dicht positioniert und anschließend ebenfalls mit Flachsmatten bedeckt. Das gesamte Paket umwickelt man schließlich erneut mit Flachsmatten und einem Vakuumsack. Dann beginnt das so genannte Vakuuminfusionsverfahren: Die Luft wird abgesaugt, woraufhin das Bioharz kontrolliert in die Hohlräume einfließt und das gesamte Bauteil kraftschlüssig miteinander verbindet.
Die acht Hauptträger und drei Querspanten der Ulmer Brücke wurden ebenfalls aus Flachsfasermatten hergestellt und mit dem Harz vergossen. Die Harzaushärtung dauert etwa einen Tag. Anschließend werden die Brücken-Einzelteile zusammengesetzt und verklebt.
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Auch das Brückengeländer besteht übrigens zu großen Teilen aus Flachs. Seine gewickelten Seile sind aus Flachsfasern, die man ebenfalls in das biobasierte Polyesterbindemittel getaucht hat, um sie stabil und witterungsbeständig zu machen. Die Geländerpfosten bestehen aus Hartholz, das aus einer abgerissenen Brücke recycelt wurde.
Sensoren-Überwachung
Zum Projekt „Smart Circular Bridge“ gehört auch eine langfristige wissenschaftliche Beobachtung der beiden Brücken in Almere und Ulm. Eingebaute Sensoren messen in Echtzeit unter anderem Belastung, Verformung, Temperatur und Umwelteinflüsse. Diese Daten werden mittels KI ausgewertet.

In Ulm nutzt man die Sensorsignale darüber hinaus auch auf eine spielerische Weise. Die Stuttgarter Sound-Agentur „Klangerfinder“ hat mit ihrer Hilfe ein interaktives Klangkunst-Konzept entwickelt. Menschliche Bewegungen und Einwirkungen der Umwelt werden live in Klänge und Musik übersetzt. Passanten hören also beim Betreten der Brücke ihre eigenen Schritte, und sie hören, wie die Brücke bei unterschiedlicher Belastung oder Temperaturveränderungen klingt.
Dass die Ulmer Brücke Teil eines wissenschaftlichen Projekts und noch nicht unbedingt ein marktreifes Produkt ist, zeigt auch ein Blick auf die Kosten. Projektkosten in Höhe von 830.000 Euro hat das Bauwerk verschlungen. Davon zahlt die Stadt Ulm 680.000 Euro, den Rest übernimmt die Europäische Union.
Zum Vergleich: Eine vergleichbare konventionelle Brücke aus Stahlträgern mit Holzbelag hätte nur 530.000 Euro gekostet. Wirtschaftlich konkurrenzfähig ist das Konzept also zunächst noch nicht. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer nachhaltigeren Baubranche ist es aber dennoch.