Wandbekleidung aus alten Stuhllehnen, Regale aus Kabeltrassen: Beim Büroumbau der AWM Münster stand der Re-Use-Gedanke im Fokus. (Quelle: Magdalena Gruber)

Panorama 2024-04-02T07:00:00Z Cradle to Cradle im Innenausbau

Durch mehr Kreislaufwirtschaft könnte die Baubranche viel klimafreundlicher werden. In der Praxis geschieht aber noch wenig. Allenfalls wird neuen Baustoffen ein Anteil an Abbruchmaterialien beigemischt – das war`s. Das viel mehr geht, zeigt der neue Innenausbau einer Bestandsimmobilie der Abfallwirtschaftsbetriebe in Münster. Der Großteil der dort verbauten Materialien hatte zuvor bereits ein erstes Leben in anderen Gebäuden. Durch die zirkuläre Bauweise wurden große Mengen CO2 eingespart.

„Wir brauchten dringend weitere Büro- und Arbeitsflächen und haben uns deshalb entschieden, das bis dahin nicht mehr nutzbare dritte Obergeschoss unseres alten Verwaltungsgebäudes umzubauen“, erläutert Patrick Hasenkamp, technischer Betriebsleiter bei den Abfallwirtschaftsbetrieben Münster (AWM) die Ausgangslage.

Eine Bestandsertüchtigung – statt Neubau – ist an sich schon eine ressourcensparende Lösung. Doch in Münster ging man noch einen Schritt weiter. Beim Innenausbau des rund 250m2 großen Obergeschosses wurde der größte Teil der verbauten Materialien – von den Glastrennwänden bis hin zur Wandverkleidung – nicht etwa neu hergestellt, sondern aus anderen Bestandsgebäuden zur Wiederverwendung bezogen. Auch die Möbel hatten bereits anderswo ein „erstes Leben“.

82 % weniger CO2-Emissionen

Die neuen Büroflächen wurden also – teilweise auf sehr kreative Art und Weise – mithilfe bestehender Altmaterialien im Sinne einer Kreislaufwirtschaft realisiert. Diese Form der Beschaffung senkt den CO2-Fußabdruck der neuen Büroetage erheblich, weil die energieintensive Neuherstellung von Innenausbaumaterialien weitgehend entfällt. „Im Vergleich zur konventionellen Bauweise haben wir durch Wiederverwendung 82 % CO2-Emissionen und 32 % Wasser eingespart“, fasst Patrick Hasenkamp zusammen.

Decken-Baffeln aus gebrauchtem PET-Filz, LED-Leuchten aus Kabeltrassen, C2C-zertifizierte Teppiche und Vorhänge, aufbereitete Altstühle. (Quelle: Magdalena Gruber)

Beim Ausbau der Büroflächen arbeitete AWM mit dem Düsseldorfer Architekturbüro Urselmann Interior zusammen, das sich auf Innenausbau nach dem Prinzip des „Cradle to Cradle“ (C2C) spezialisiert hat. Ebenfalls am Projekt beteiligt war Concular, die Internet-Plattform für wiedergewonnene Baumaterialien, über die wir bereits im BaustoffWissen-Beitrag „Vermittlung von Altbaustoffen“ berichtet haben.

„Der Bausektor spielt eine Schlüsselrolle, wenn es um die Vermeidung von Abfällen, die Schonung von Ressourcen die Vermeidung von CO2-Emissionen geht“, sagt Sven Urselmann, Inhaber von Urselmann Interior. Wie hoch das Einsparpotenzial ist, verdeutlicht Prof. Dr. Sabine Flamme von der Fachhochschule Münster: „Derzeit steht der Bausektor in Deutschland für 63 % des Ressourcenverbrauches, 55 % des gesamten Abfallaufkommens und 40 % der Treibhausgase“.

Die Bundesregierung hat den Handlungsbedarf erkannt und arbeitet derzeit an einer nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie (NKWS) für alle Wirtschaftsbereiche, die noch 2024 verabschiedet werden soll. Im Baubereich geht es insbesondere darum, den Bestandserhalt vorm Neubau zu priorisieren und rückbaufähige Bauwerke stärker zu fördern. „Bauteile und Baustoffe sollen möglichst wiederverwendet oder recycelt werden und in neuen Bauvorhaben eingesetzt werden“, erläutert Flamme.

Design folgt Verfügbarkeit

Vieles von dem, was in den Entwürfen zur nationalen Kreislaufwirtschaftsstrategie bisher nur theoretisch formuliert wurde, ist beim Büroprojekt der Abfallwirtschaftsbetriebe Münster bereits Realität. Insgesamt kamen dort 6,9 Tonnen wiedergewonnene Materialien zum Einsatz – die gleiche Menge wurde an Abfall eingespart. Gegenüber einer konventionellen Bauweise wurden 13,32 Tonnen CO2-Äquivalente eingespart (82 %).

Einbau einer Glastrennwand aus dem Düsseldorfer Behrensbau. (Quelle: Urselmann Interior)

Zu diesem großen Einsparungserfolg haben verschiedene Innenausbau-Lösungen beigetragen. So sind die Wände in vielen Bürobereichen mit einer sehr speziellen Holzverkleidung ausgestattet. Diese wurde aus den Lehnen alter Theater- und Schulstühle gebaut. Wobei diese Lösung vergleichsweise spontan entstand. Eigentlich sollte die Verkleidung nämlich mit dem Altholz aus einem Abrissgebäude realisiert werden. Erst nachdem sich das Rückbau-Projekt kurzfristig verschoben hatte, kam die Stuhllehnen-Idee zum Zuge.

Das Beispiel mit den Stühlen verdeutlicht gut die grundsätzliche Planungsphilosophie der Architektinnen und Architekten von Urselmann Interior. Diese folgt dem Ansatz „Design to availability“. Das bedeutet, dass sich das umgesetzte Innenausbau-Design stets auch an der jeweiligen Verfügbarkeit („availability“) von Materialien orientiert. Ist ein zunächst geplantes Material zum Einbauzeitpunkt vergriffen, setzt man eben auf Alternativen.

Einen weiteren Aspekt des Prinzips Design to availability verdeutlichen die Glastrennwände, die man auf der neuen AWM-Büroetage in verschiedenen Bereichen findet. Sie stammen ursprünglich aus dem Düsseldorfer Behrensbau, der kurz vor dem ersten Weltkrieg als Hauptverwaltung der Mannesmann-Röhrenwerke gebaut wurde und heute das Haus der Geschichte Nordrhein-Westfalen beherbergt. Die Größe der Glastrennwände aus dem historischen Bau definiert nun also die Größe der Wandausschnitte in Münster. Das zeigt: Gemacht wird nicht, was theoretisch planbar, sondern was materiell nachhaltig verfügbar ist.

Kreative „Re-Use“-Ideen

Weitere Beispiele für die in Münster umgesetzte „Re-Use“-Philosophie betreffen die Büromöbel und die Wandunterkonstruktionen. Beides wurde aus gebrauchten Dachsparren und Konstruktionsholz-Elementen gefertigt, die Concular lieferte.

Die Unterkonstruktion der Zwischenwände besteht Re-Use-Vollholz. (Quelle: Urselmann Interior)

Interessant sind auch die metallischen Büroregale. Sie wurden aus alten Kabeltrassen zusammengebaut, ihre Halterungen stammen aus ausgemusterten 3D-Druckern. Im Deckenbereich kommen schallschluckende Baffeln aus gebrauchtem PET-Filz zum Einsatz, und für die dortigen LED-Leuchten vertraute man ebenfalls auf eine Konstruktion aus alten Kabeltrassen. Die Zwischenwände wiederum – sofern nicht gläsern transparent – bestehen aus R-Use-Vollholz und Lehm.

Auch sämtliche Bürodrehstühle und sonstigen Sitzgelegenheiten wurden aus Altbeständen aufbereitet. Für den Bezug einiger Designer-Sessel kam C2C-zertifizierter Stoff zum Einsatz. Selbst die Tischplatten bestehen aus recycelten Materialien. Die Vorhänge sind C2C-zertifiziert, ebenso die nicht verklebten Teppichfliesen.

Alles im allen atmet die gesamte neue Büroetage den Geist des Cradle to Cradle. Sämtliche Bauteile sind nur verschraubt oder gesteckt – jedenfalls nicht verklebt–, sodass später eine sortenreine Demontage möglich ist. Und damit auch die erneute Wiederverwendung in Gebäuden der Zukunft. Damit das dann möglichst reibungslos funktioniert, erstellt Urselmann Interior für seine Innenausbau-Projekte auf Kundenwunsch auch einen „Interior Materialpass“. Der enthält detaillierte Informationen über die Zusammensetzung, Herkunft und Verarbeitung aller verwendeten Materialien.

Der englische Begriff Cradle to Cradle („Von der Wiege zur Wiege“) steht bekanntlich für ein perfektes Kreislaufsystem, bei dem Produkte am Ende ihrer Lebensdauer keinerlei Abfall mehr hinterlassen, weil sie entweder komplett kompostierbar sind oder aber ohne Qualitätsverlust immer wieder recycelbar sind. Es ist schon eine Ironie der Geschichte, dass das C2C-Vorzeigeprojekt in Münster nun ausgerechnet bei einem Unternehmen der Abfallwirtschaft verwirklicht wurde.

zuletzt editiert am 02. April 2024