Fast die Hälfte aller Gymnasiasten beginnt mittlerweile nach dem Abitur zunächst einmal kein Studium, sondern eine duale oder schulische Berufsausbildung. Schulabgänger mit Hauptschulabschluss haben es dagegen zunehmend schwer, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie zu Ausbildungschancen in Deutschland, die das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt hat.
„Von einer mangelnden Attraktivität der Berufsausbildung für Abiturientinnen und Abiturienten kann keine Rede sein“, sagt Dieter Dohmen, Direktor des Berliner Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) und einer der Autoren der Studie. Im Gegenteil: Junge Menschen mit Abitur interessieren sich offenbar zunehmend für berufliche Ausbildungen. Laut dem im Januar erschienenen „ Monitor Ausbildungschancen 2023 – Gesamtbericht Deutschland “ ist in den vergangenen zehn Jahren der Anteil derer, die mit Abitur eine duale oder schulische Ausbildung beginnen, von 35 % im Jahr 2011 auf 47,4 % im Jahr 2021 gestiegen.
Besonders häufig entscheiden sich die Abiturienten für eine duale Berufsausbildung. In der Bertelsmann-Studie heißt es dazu: „ Von einer deutlich höheren Zahl von Studienberechtigten als vor 15 Jahren gehen heute – sowohl in absoluten als auch in relativen Zahlen – deutlich mehr in die duale Ausbildung über. In Relation zur Zahl der Abiturient:innen des entsprechenden Kalenderjahres hat sich der Anteil von 25 % auf 36 % erhöht. Es ist wenig überraschend, dass dieser Anstieg bei einer insgesamt sinkenden Zahl von neuen Ausbildungsverträgen zu einem Verdrängungseffekt zulasten anderer Gruppen von Schulabgänger:innen gehen muss. “
Chancen für Hauptschüler verschlechtert

Von dieser Verdrängung betroffen sind insbesondere Hauptschulabgänger. Während die praktische Ausbildung bei Gymnasiasten an Beliebtheit gewonnen hat, und Ausbildungsbetriebe für diese Klientel auch meist offen sind, haben es junge Menschen mit Hauptschulabschluss heute schwerer, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.
Die Zahlen der Bertelsmann-Studie sprechen hier eine eindeutige Sprache: Zwischen 2011 und 2021 hat sich der Anteil der Jugendlichen, die mit einem Hauptschulabschluss die Berufsausbildung beginnen, um ein Fünftel verringert. Im Pandemiejahr 2020 schafften 84,4 % des damaligen Hauptschulabschlussjahrgangs den Übergang in eine Ausbildung. Das war der bisherige Tiefstwert. Ein Jahr später lag die Quote bei 87,6 % (siehe Grafik oben).
Verglichen mit früheren Zeiten ist das wenig. 2012 betrug die Übergangsquote bei den Hauptschülern noch 108,9 %. Zur Erläuterung: Eine Quote von über 100 % ergibt sich, wenn in einem Jahr mehr Personen mit einem Hauptschulabschluss eine Ausbildung aufgenommen haben als im gleichen Jahr die Schulen mit einem Hauptschulabschluss verlassen haben.
Der sinkende Anteil von Hauptschülern an den Auszubildenden hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass die Zahl der Hauptschulabsolventen in Deutschland insgesamt gesunken ist. Doch der „Monitor Ausbildungschancen 2023“ zeigt auch, dass sich hierzulande die Zahl der Jugendlichen deutlich erhöht hat, die sich weder in Ausbildung noch in der Schule oder in Arbeit befinden. In der Gruppe der 15- bis 24-Jährigen zählten 2021 insgesamt 630.000 Personen zu den so genannten NEETs (Not in Employment, Education or Training) – im Jahr 2019 waren es „nur“ 492.000.
Erschreckende Ungelernten-Quote

„Die Entwicklung ist dramatisch“, findet Dieter Dohmen. „Viel zu viele Jugendliche gehen auf dem Ausbildungsmarkt leer aus oder fallen ganz aus dem System.“ Und das oft dauerhaft. Laut Berufsbildungsbericht der Bundesregierung gehörten im Jahr 2020 mehr als ein Drittel (35,8 %) aller 20- bis 35-Jährigen mit Hauptschulabschluss zur Gruppe der Ungelernten. Bei Menschen derselben Altersgruppe, die gar keinen Schulabschluss haben, betrug die Ungelernten-Quote sogar 64,4 %. Insgesamt gab es 2020 in Deutschland 2,3 Millionen Ungelernte unter den 20- bis 35-Jährigen.
Dass es für Jugendliche mit niedriger Schulbildung scheinbar schwieriger geworden ist, einen Ausbildungsplatz zu ergattern, ist besonders bitter vor dem Hintergrund, dass es in Deutschland in den letzten Jahren vermehrt Ausbildungsplatzangebote gibt, die unbesetzt bleiben, weil es aus Sicht der ausbildenden Betriebe keine geeigneten Bewerber gibt. Der Bertelsmann-Monitor begründet die Marktentwicklung neben den steigenden Qualifikationsanforderungen auf dem Ausbildungsmarkt sowie regionalen Ungleichgewichten auch mit den Einschränkungen durch Corona. Die Pandemie habe aufgrund fehlender Praktika und Orientierungsmöglichkeiten vielen Jugendlichen den Berufseinstieg erschwert.
Debatte um Ausbildungsgarantie
„Wir brauchen eine Ausbildungsgarantie, die wirklich jedem jungen Menschen eine Ausbildungschance gibt und die auch individuelle Begleitung und Unterstützung beinhaltet, um den Abschluss zu erreichen“, fordert Clemens Wieland, Ausbildungsexperte der Bertelsmann-Stiftung , vor dem Hintergrund der Studienergebnisse.
Das sehen nicht alle so. Dr. Achim Dercks etwa, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), äußerte sich nach Erscheinen der Studie kritisch zum „Angebot einer betriebsfernen Ausbildungsgarantie jenseits der Bedarfe der Wirtschaft“ und bezeichnete eine solche Garantie als falschen Weg. „Notwendig sind aus Unternehmenssicht vielmehr der Ausbau der Berufsorientierung sowie eine bessere Vermittlung in Ausbildung“, so Dercks.
Auch die Interpretation einiger Daten im „Monitor Ausbildungschancen 2023“ sieht die DIHK offenbar kritisch. Den steigenden Anteil von jungen Erwachsenen mit Hochschulzugangsberechtigung in der dualen Ausbildung bewertet Achim Dercks durchaus positiv: „Zusatzangebote wie duale Studiengänge , Auslandsaufenthalte oder Zusatzqualifikationen während der dualen Ausbildung haben sich in den vergangenen Jahren zu interessanten Optionen entwickelt“.
Zugleich seien aber auch für Jugendliche mit Hauptschulabschluss die Chancen auf einen Ausbildungsplatz weiterhin sehr gut. „Der Rückgang der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss in einer dualen Ausbildung folgt dem anteiligen Rückgang bei den Schulabsolventen“, behauptet Dercks. In Deutschland gebe es momentan „keinen Mangel an Chancen, sondern vielmehr einen Mangel an Orientierung“.

Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen . Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis . Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com