RM Rudolf Müller
Kapillare im Abstandhalter einer Mehrscheiben-Isolierglaseinheit. Foto: ift Rosenheim

Kapillare im Abstandhalter einer Mehrscheiben-Isolierglaseinheit. Foto: ift Rosenheim

 
Bauelemente
20. Oktober 2016 | Artikel teilen Artikel teilen

Forschung: Druckentspanntes Mehrscheiben-Isolierglas

Weil Gebäudefassaden heute als Ganzes eine gute Wärmedämmung bieten müssen, sind Fenster mit Mehrscheiben-Isolierglas mittlerweile Standard. Am besten wären Bauelemente mit drei oder sogar vier Scheiben und relativ großen Scheibenzwischenräumen. Doch diesbezüglich gab es bisher enge technische Grenzen. Neue Erkenntnisse zu druckentspanntem Mehrscheiben-Isolierglas könnten das ändern.

Seit Einführung der ersten Wärmeschutzverordnung (1977) und der nachfolgenden Energieeinsparverordnungen gelten in Deutschland auch für Fenster hohe Mindestdämmvorgaben. Diese sind mit Einfachverglasungen nicht mehr zu erreichen. Deshalb wurde zunächst Zweischeiben-Isolierglas zum Standard, heute wird im Neubau oft schon Dreischeiben-Isolierglas eingesetzt. Bei all diesen Wärmedämmgläsern befindet sich zwischen den Scheiben ein Hohlraum, der entweder mit Luft gefüllt ist oder mit einem Edelgas, das eine noch höhere Wärmedämmung als Luft bietet.

Sind größere Scheibenzwischenräume machbar?

Zwischen den Scheiben ist der thermische Druck oft viel höher als im Außenbereich. Grafik: Saint-Gobain Glass Deutschland

Zwischen den Scheiben ist der thermische Druck oft viel höher als im Außenbereich. Grafik: Saint-Gobain Glass Deutschland

Der Dämmeffekt moderner Dreischeiben-Isoliergläser ließe sich noch erhöhen, wenn man den Abstand zwischen den Scheiben vergrößern würde. Das hätte zudem den Vorteil, dass sich Sonnenschutzsysteme besser in das Bauelement selbst integrieren ließen. Allerdings führt ein größerer Scheibenabstand auch zu größeren Druckbelastungen auf die Gläser, weil bei erhöhter Stärke des Scheibenverbunds die Temperaturunterschiede innerhalb und außerhalb des Bauelements immer größer werden. Das kann zu Durchbiegungen der Gläser und in der Folge zu Undichtigkeiten des Randverbunds führen, über den die Scheiben miteinander verbunden sind. Schlimmstenfalls droht sogar Glasbruch. Deshalb waren die Möglichkeiten einer Vergrößerung des Scheibenabstands bislang eng begrenzt.

Lassen sich derartige Beschränkungen durch eine veränderte Mehrscheibentechnik vielleicht aufheben oder zumindest lockern? Das war die zentrale Frage des Forschungsprojekts „Untersuchungen zur Umsetzbarkeit von druckentspanntem Isolierglas“, das vom ift Rosenheim 2015 abgeschlossen wurde. Hauptergebnis: Große Scheibenzwischenräume sind machbar, wenn durch geeignete technische Vorrichtungen der Unterschied zwischen dem äußeren Luftdruck und dem thermischen Druck innerhalb des Bauelements ausgeglichen wird.

Das ift Rosenheim unterstützt die Fenster-, Fassaden- und Türenbranche seit 1966 als neutrale Prüf-, Überwachungs- und Zertifizierungsstelle. Im Mittelpunkt seiner technischen Dienstleistungen steht die Prüfung, Bewertung und Zertifizierung von Fenstern, Fassaden, Türen, Toren, Glas und Baustoffen.

Druckentspannung durch Kapillare oder Ventile

Konventionelles Isolierglas ist nach außen hermetisch abgeschlossen, um die Luftfeuchtigkeit im Scheibenzwischenraum möglichst gering zu halten beziehungsweise um das Entweichen von Edelgasfüllungen zu verhindern. Dadurch findet allerdings auch kein Druckausgleich statt. Das ift Rosenheim experimentierte in seinem Forschungsprojekt mit so genanntem druckentspannten Isolierglas, bei dem der Scheibenzwischenraum an den äußeren Luftdruck angekoppelt wird, um Klimalasten auszuschalten.

Mithilfe von Simulationstools, physikalischen Berechnungsmodellen sowie Labor- und Freilandversuchen fanden die Forscher heraus, dass sich sowohl mithilfe von dünnen Kapillaren als auch mit Ventilen eine dauerhafte Druckentspannung von Isolierglas bewirken lässt. Die Kapillare beziehungsweise Ventile verbinden die Scheibenzwischenräume mit der Außenluft und ermöglichen einen Druckausgleich. Je nach Format, Aufbau, Klimabelastung und angestrebtem Grad der Druckentspannung erscheinen für Kapillare Nutzungsdauern von über zwanzig Jahren realistisch, für Ventile sogar von vierzig Jahren.

Vorteile des Druckausgleichs

Die Anwendung der untersuchten Methoden zur Druckentspannung ermöglicht einen größeren Scheibenzwischenraum und damit eine bessere Wärmedämmung der Fenster – ohne dass ein größerer Feuchteeintrag in den Scheibenzwischenraum zu befürchten ist. Zugleich entsteht mehr Platz für Sonnenschutzsysteme zwischen den Scheiben.

Doch das sind noch nicht alle Vorteile. Nach Aussagen des ift Rosenheim wird auch die Luftschalldämmung der Bauelemente verbessert. Zudem ergibt sich die Chance, Isolierglas mit mehr als drei Scheiben und reduzierten Glasdicken ohne wesentliche Beschränkung der Scheibenabstände zu realisieren. Insgesamt ermöglicht die Technik nach Ansicht der Forscher eine Verlängerung der Lebensdauer von Mehrscheiben-Isolierglas und eine Verringerung des Glasbruchrisikos.


Mehr zum Thema Fenster finden Sie in der Übersicht


Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

Fenstereinbau: Wie vermeidet man Wärmebrücken?

Für Neubauten schreibt die Energieeinsparverordnung eine luftdichte Gebäudehülle vor. Im Fensterbereich kommt es dabei auf Details an. Nicht nur das...

mehr »
 

Erklärt: Was genau ist Glas?

Verglaste Fenster haben sich in Europa erst seit dem Mittelalter durchgesetzt. Dabei ist der Werkstoff deutlich älter. Schon im zweiten...

mehr »
 

Fassadenfenster: Übersicht über die Öffnungsmechanismen

In Deutschlands Wohnungen erfolgt das Stoßlüften meist über Drehflügelfenster. Dass der Flügel dabei in den Raum gezogen wird, erscheint uns...

mehr »
Nach oben
nach oben