
Kapillare im Abstandhalter einer Mehrscheiben-Isolierglaseinheit. Foto: ift Rosenheim
Forschung: Druckentspanntes Mehrscheiben-Isolierglas
Weil Gebäudefassaden heute als Ganzes eine gute Wärmedämmung bieten müssen, sind Fenster mit Mehrscheiben-Isolierglas mittlerweile Standard. Am besten wären Bauelemente mit drei oder sogar vier Scheiben und relativ großen Scheibenzwischenräumen. Doch diesbezüglich gab es bisher enge technische Grenzen. Neue Erkenntnisse zu druckentspanntem Mehrscheiben-Isolierglas könnten das ändern.
Seit Einführung der ersten Wärmeschutzverordnung (1977) und der nachfolgenden Energieeinsparverordnungen gelten in Deutschland auch für Fenster hohe Mindestdämmvorgaben. Diese sind mit Einfachverglasungen nicht mehr zu erreichen. Deshalb wurde zunächst Zweischeiben-Isolierglas zum Standard, heute wird im Neubau oft schon Dreischeiben-Isolierglas eingesetzt. Bei all diesen Wärmedämmgläsern befindet sich zwischen den Scheiben ein Hohlraum, der entweder mit Luft gefüllt ist oder mit einem Edelgas, das eine noch höhere Wärmedämmung als Luft bietet.
Sind größere Scheibenzwischenräume machbar?

Zwischen den Scheiben ist der thermische Druck oft viel höher als im Außenbereich. Grafik: Saint-Gobain Glass Deutschland
Der Dämmeffekt moderner Dreischeiben-Isoliergläser ließe sich noch erhöhen, wenn man den Abstand zwischen den Scheiben vergrößern würde. Das hätte zudem den Vorteil, dass sich Sonnenschutzsysteme besser in das Bauelement selbst integrieren ließen. Allerdings führt ein größerer Scheibenabstand auch zu größeren Druckbelastungen auf die Gläser, weil bei erhöhter Stärke des Scheibenverbunds die Temperaturunterschiede innerhalb und außerhalb des Bauelements immer größer werden. Das kann zu Durchbiegungen der Gläser und in der Folge zu Undichtigkeiten des Randverbunds führen, über den die Scheiben miteinander verbunden sind. Schlimmstenfalls droht sogar Glasbruch. Deshalb waren die Möglichkeiten einer Vergrößerung des Scheibenabstands bislang eng begrenzt.
Lassen sich derartige Beschränkungen durch eine veränderte Mehrscheibentechnik vielleicht aufheben oder zumindest lockern? Das war die zentrale Frage des Forschungsprojekts „Untersuchungen zur Umsetzbarkeit von druckentspanntem Isolierglas“, das vom ift Rosenheim 2015 abgeschlossen wurde. Hauptergebnis: Große Scheibenzwischenräume sind machbar, wenn durch geeignete technische Vorrichtungen der Unterschied zwischen dem äußeren Luftdruck und dem thermischen Druck innerhalb des Bauelements ausgeglichen wird.
Das ift Rosenheim unterstützt die Fenster-, Fassaden- und Türenbranche seit 1966 als neutrale Prüf-, Überwachungs- und Zertifizierungsstelle. Im Mittelpunkt seiner technischen Dienstleistungen steht die Prüfung, Bewertung und Zertifizierung von Fenstern, Fassaden, Türen, Toren, Glas und Baustoffen.
Druckentspannung durch Kapillare oder Ventile
Konventionelles Isolierglas ist nach außen hermetisch abgeschlossen, um die Luftfeuchtigkeit im Scheibenzwischenraum möglichst gering zu halten beziehungsweise um das Entweichen von Edelgasfüllungen zu verhindern. Dadurch findet allerdings auch kein Druckausgleich statt. Das ift Rosenheim experimentierte in seinem Forschungsprojekt mit so genanntem druckentspannten Isolierglas, bei dem der Scheibenzwischenraum an den äußeren Luftdruck angekoppelt wird, um Klimalasten auszuschalten.
Mithilfe von Simulationstools, physikalischen Berechnungsmodellen sowie Labor- und Freilandversuchen fanden die Forscher heraus, dass sich sowohl mithilfe von dünnen Kapillaren als auch mit Ventilen eine dauerhafte Druckentspannung von Isolierglas bewirken lässt. Die Kapillare beziehungsweise Ventile verbinden die Scheibenzwischenräume mit der Außenluft und ermöglichen einen Druckausgleich. Je nach Format, Aufbau, Klimabelastung und angestrebtem Grad der Druckentspannung erscheinen für Kapillare Nutzungsdauern von über zwanzig Jahren realistisch, für Ventile sogar von vierzig Jahren.
Vorteile des Druckausgleichs
Die Anwendung der untersuchten Methoden zur Druckentspannung ermöglicht einen größeren Scheibenzwischenraum und damit eine bessere Wärmedämmung der Fenster – ohne dass ein größerer Feuchteeintrag in den Scheibenzwischenraum zu befürchten ist. Zugleich entsteht mehr Platz für Sonnenschutzsysteme zwischen den Scheiben.
Doch das sind noch nicht alle Vorteile. Nach Aussagen des ift Rosenheim wird auch die Luftschalldämmung der Bauelemente verbessert. Zudem ergibt sich die Chance, Isolierglas mit mehr als drei Scheiben und reduzierten Glasdicken ohne wesentliche Beschränkung der Scheibenabstände zu realisieren. Insgesamt ermöglicht die Technik nach Ansicht der Forscher eine Verlängerung der Lebensdauer von Mehrscheiben-Isolierglas und eine Verringerung des Glasbruchrisikos.
Über den Autor
Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für
BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin
BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift
baustoffpraxis.
Kontakt:
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