RM Rudolf Müller
Die Studie fordert Modernisierungen – aber mit Augenmaß.  Foto: Anke Thomass – stock.adobe.com

Die Studie fordert Modernisierungen – aber mit Augenmaß.  Foto: Anke Thomass – stock.adobe.com

Energetisches Bauen
09. Juni 2022 | Artikel teilen Artikel teilen

Klimaneutrale Mehrfamilienhäuser?

Deutschland hat sich das ambitionierte Ziel gesetzt, dass sein gesamter Gebäudebestand bis 2045 klimaneutral sein soll. Kann das in der Breite wirklich gelingen – also zum Beispiel auch bei vermieteten Mehrfamilienhäusern? Mit genau dieser Frage beschäftigt sich eine aktuelle Studie, die vom Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW) sowie vom Verband für Dämmsysteme, Putz und Mörtel (VDPM) in Auftrag gegeben wurde.

Die Studie „Klimaneutralität vermieteter Mehrfamilienhäuser – aber wie?“ wurde von Prof. Dr. Sven Bienert, Leiter des Kompetenzzentrums für Nachhaltigkeit in der Immobilienwirtschaft an der Universität Regensburg, im Auftrag von GdW und VDPM verfasst und ist im März erschienen. Die beiden Verbände verlangen beim Thema klimaneutraler Gebäudebestand „ein Ende „hochgeschraubter Ideen, die für Hausbesitzer in der Realität nicht leistbar sind“. Folgerichtig konzentriert sich die Studie auf „wirtschaftlich umsetzbare Vorschläge“ – und zwar mit Fokus auf den Bestand der etwa 3,2 Mio. deutschen Mehrfamilienhäuser, in denen sich aktuell knapp 21 Mio. Wohnungen befinden.

Was bedeutet klimaneutraler Gebäudebestand?

Wie oben bereits erwähnt, soll in Deutschland bis 2045 der gesamte Gebäudebestand klimaneutral sein. Dieses Ziel bezieht sich auf die Treibhausgas-Emissionen (CO2 und CO2-Äquivalente), die ein Gebäude während seiner Nutzung verursacht. Es geht also nicht um die Emissionen, die in der Vergangenheit verursacht wurden, um das Gebäude zu errichten, und es geht ebenso wenig um künftige Emissionen, die irgendwann für den Rückbau des Gebäudes anfallen könnten. Es geht um die Emmissionen während der Betriebsphase. Ziel ist es also, klimaneutral betriebene Gebäude zu realisieren.

Und was genau ist ein klimaneutral betriebenes Gebäude? Die Studie übernimmt hier eine Definition der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB). Demnach kann von einem klimaneutral betriebenen Gebäude gesprochen werden, wenn Folgendes gilt: „Die Differenz zwischen den ausgestoßenen Emissionen und den Emissionen, die durch Produktion und Bereitstellung nach extern von CO2-freier Energie eingespart werden, ist auf ein Jahr hin betrachtet null oder kleiner als null.

Anders ausgedrückt: Ein Gebäude ist klimaneutral, wenn es entweder gar keine Treibhausgas-Emissionen aus fossilen Verbrennungsprozessen mehr verursacht oder aber die noch verbliebenen Treibhausgas-Emissionen im Jahresdurchschnitt mindestens kompensieren kann. Letzteres setzt voraus, dass das Haus – über ein ganzes Jahr betrachtet – mehr CO2-freie Energie produziert als es selbst verbraucht. Dann wäre ein Energietransfer an andere Nutzer möglich.

Modernisierung mit Augenmaß

Häufigkeitsverteilung der Energieeffizienzklassen im deutschen Wohngebäudebestand. Grafik: Studie

Häufigkeitsverteilung der Energieeffizienzklassen im deutschen Wohngebäudebestand. Grafik: Studie

Doch zurück zu der neuen Studie über die Mehrfamilienhäuser. GdW und VDPM fordern im Kern, solche Bestandsgebäude „mit Augenmaß“ zu modernisieren und die energetischen Gebäudestandards nicht ständig weiter zu erhöhen. Ziel müsse es sein, die Altbauten so zu dämmen, dass man sie anschließend effizient mit erneuerbarer Energie versorgen kann. „Wenn Gebäude mit erneuerbarer Energie versorgt werden sollen – und das ist Konsens – müssen sie dafür vorbereitet sein“, unterstreicht der VDPM-Vorsitzende Christoph Dorn. „Eine vernünftig gedämmte Gebäudehülle ist der Türöffner für erneuerbare Energie.

Was aus Sicht der Verbände unter „vernünftig“ zu verstehen ist, erläutert GdW-Präsident Axel Gedaschko: „Wir brauchen jetzt mehr denn je realitätsnahe, schnell umsetzbare Konzepte statt hochgeschraubter Ideen und technisch überfrachteter Anforderungen, die sich weder Gebäudeeigentümer noch Mieter leisten können.“ Die neue Studie unterstützt diese Einschätzung. Eines ihrer zentralen Ergebnisse lautet nämlich, dass sich bei vermieteten Mehrfamilienhäusern der reale Energieverbrauch durch eine weitere Verschärfung der Gebäudestandards kaum noch senken lässt.

Bei einem gemessenen Endenergieverbrauch von 80 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr ist meistens Schluss“, sagt Prof. Sven Bienert. „Unter diesen Wert lässt sich im Mietwohnungsbereich der Energieverbrauch in der Praxis selbst mit aufwändigen Maßnahmen bei einer energetischen Bestandsmodernisierung kaum senken, auch wenn die theoretischen Bedarfsberechnungen zu anderen Ergebnissen kommen.“ Passend dazu heißt es in der Studie, dass eine Erhöhung der Dämmstoffdicke über 14 cm hinaus nur noch relativ geringe Einspareffekte bewirke.

„Tiefensanierung“ unsinnig

Die 92-seitige Studie ist im März 2022 erschienen.

Die 92-seitige Studie ist im März 2022 erschienen.

Die oben genannten 80 Kilowattstunden Endenergieverbrauch wären aber gar kein schlechter Wert, wenn sie in der Breite der deutschen Mehrfamilienhäuser Realität würden. Nach Einschätzung von GdW und VDPM könnte Deutschland nämlich seine Klimaziele erreichen, wenn es gelänge, das Verbrauchsniveau in den Wohnungen von heute rund 150 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr im Durchschnitt auf etwa 70 bis 80 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr abzusenken.

Eben deshalb sei es volkswirtschaftlich sinnvoller, möglichst viele Gebäude mit Augenmaß zu modernisieren und dann den verbleibenden Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen zu decken. Ein hochgerüstetes energetisches Modernisieren, auch als „Tiefensanierung“ bezeichnet, mache weder für Gebäudeeigentümer noch für die Bewohner Sinn. „Viel Aufwand bei nur geringem Nutzen“, heißt es in der Studie. Und weiter: „Angesichts der Notwendigkeit einer komplett erneuerbaren Energieversorgung sollten möglichst viele Gebäude energetisch verbessert werden, anstatt die Mittel in weniger Gebäude mit höchsten Effizienzniveaus zu lenken“.

Die Studie spricht sich eindeutig für das Dämmen von Bestandsgebäuden mit schlechtem energetischen Ausgangszustand aus. Hat die Gebäudehülle allerdings erst einmal einen gewissen energetischen Standard erreicht, seien weitere Modernisierungen in diesem Bereich für die Erreichung der Klimaziele nicht mehr effizient. Ab einem bestimmten Niveau der Hüllenmodernisierung sei es vorteilhafter, den Fokus auf den Ausbau der erneuerbaren Wärmebereitstellung zu richten. So sei eine Dekarbonisierung des Gebäudebestands zu geringstmöglichen Kosten erreichbar.

Flächendeckende „Niedertemperatur-Readiness“

In diesem Sinne empfiehlt die Studie, Mehrfamilienhäuser nur so weit zu dämmen, dass sie anschließend „Niedertemperatur-ready“ sind. Das ist der Fall, wenn sich ihr Heizbedarf mit einer Niedertemperatur-Heizung decken lässt, deren Vorlauftemperatur höchstens 55 °C beträgt. Solche Heizungen lassen sich effizient mit erneuerbarer Energie betreiben, zum Beispiel aus einer Wärmepumpe oder einer Niedertemperatur-Fernheizung.

Unterm Strich kommt die Studie zu dem Schluss, dass das Ziel klimaneutraler Mehrfamilienhäuser am besten durch eine flächendeckende „Niedertemperatur-Readiness“ erreichbar ist. Dafür müsse man die Gebäudehüllen der Bestandhäuser so weit modernisieren, dass sie einen Endenergiebedarf von durchschnittlich 70 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr erreichen. Dies entspricht etwa dem Standard eines Effizienzhaus 70.

Ein ordnungspolitisches Vorgehen mit der Brechstange ist nicht die Lösung“, betont Axel Gedaschko. „Die notwendigen Schritte müssen wirtschaftlich und für alle Beteiligten plausibel sein, damit sie in der Praxis umgesetzt werden können.“ Entscheidend sei am Ende, wieviel CO2 ein Gebäude in die Atmosphäre emittiere.


Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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