RM Rudolf Müller
2010: Erdbebenschäden in der italienischen Region L`Aquila. Foto: Helga Dörk / www.pixelio.de

2010: Erdbebenschäden in der italienischen Region L`Aquila. Foto: Helga Dörk / www.pixelio.de

Bauphysik
06. Oktober 2016 | Artikel teilen Artikel teilen

Was versteht man unter erdbebensicherem Bauen?

Im August 2016 bebte in Italien mal wieder die Erde und legte nördlich von Rom ganze Bergdörfer in Trümmer. Durch den Einsturz von Häusern kamen fast 300 Menschen ums Leben. Das Erschreckende: Viele der zerstörten Bauwerke waren erst in den letzten Jahren nach Erdbeben neu gebaut oder zumindest saniert worden. Die Katastrophe hätte also vermutlich viel geringer ausfallen können, wenn man erdbebensicher gebaut hätte. Doch was versteht man darunter eigentlich?

Größere Beben führen im Erdinneren zu gewaltigen Wellenbewegungen, die dann an der Erdoberfläche zu spüren sind. Der Boden bewegt sich in horizontaler oder vertikaler Richtung und mit ihm alles, was auf ihm steht – eben auch Häuser. Die meisten menschlichen Todesopfer bei solchen Katastrophen hängen allerdings nicht mit der Erdbewegung an sich zusammen, sondern sind die Folge einstürzender Gebäude. Ganz allgemein bedeutet erdbebensicheres Bauen daher, Gebäude so zu errichten, dass sie die Bewegungen der Erde „mitmachen“, ohne dabei einzustürzen und ihre Bewohner unter sich zu begraben.

Gedrungener Grundriss

Aber ist das denn möglich? Schließlich ist der Glaube weit verbreitet, dass man gegen die Naturgewalt eines schweren Erdbebens ohnehin nichts ausrichten könne. Die Praxis zeigt aber das Gegenteil. In Gegenden mit erdbebensicherer Bauweise gibt es in der Regel viel geringere  Hausschäden und Opferzahlen als an Orten, wo es keine derartigen Vorkehrungen gibt. Tatsächlich lässt sich schon durch simple Planungsvorgaben der Gebäudeschutz deutlich erhöhen.

Häuser mit einfachem, möglichst symmetrischem Aufbau und tiefem Schwerpunkt sind nämlich viel bebensicherer als hohe Türme oder Konstruktionen mit verschachtelten Grundrissen wie U- oder T-Formen. Als Richtschnur lässt sich angeben, dass Gebäude in erdbebengefährdeten Gebieten maximal dreimal so lang wie breit und maximal viermal so hoch wie breit sein sollten. Je kompakter, umso sicherer. Gedrungene Bauwerke sind relativ starre Körper, welche die Bodenbewegungen bei Erdbeben in vielen Fällen einfach mitmachen. Ihre Eigenschwingung ist dabei relativ gering, weshalb sie nicht so schnell einstürzen.

Hohe Steifigkeit

Wichtig ist zudem eine hohe Steifigkeit der Bauwerke. Ein Haus, das nur aus Außenmauern besteht, wird sich bei einer horizontalen Bewegung der  Erde eher verformen als eines, das durch Zwischenwände ausgesteift ist. Ideal sind Aussteifungswände, die über mehrere Geschosse verlaufen. Unsymmetrische, versetzte Wandordnungen sind dagegen zu vermeiden. Auch ein Kern aus Stahlbeton erhöht die Steifigkeit. Planerisch lässt er sich zum Beispiel gut mit einem Treppenhaus oder einem Fahrstuhlschacht verbinden.

Bei mehrgeschossigen Gebäuden sollte zudem auf eine gleichmäßige Steifigkeit und Masseverteilung geachtet werden. Wenn sich in einem Haus steife und eher „weiche“ Geschosse abwechseln, verringert das die Erdbebensicherheit. Auch unterschiedlich schwere Geschosse beeinflussen das Schwingungsverhalten negativ. Vor allem ist es zu vermeiden, dass die höheren Geschosse schwerer sind als die darunter liegenden.

Baustoffe

Hohe Steifigkeit bedeutet nicht unbedingt, dass schwere Baustoffe zu bevorzugen sind. Der relativ leichte Baustoff Holz eignet sich beispielsweise ziemlich gut für das erdbebensichere Bauen. Gebäude in moderner Holzständerbauweise aber auch alte Fachwerkhäuser können relativ hohe Schwingungen aushalten, ohne einzustürzen – vorausgesetzt sie verfügen über einen eher gedrungenen Grundriss. Schwere Gebäude aus Beton oder Mauersteinen geraten natürlich nicht so schnell in Schwingungen. Geschieht dies aber doch, dann sind gleich wesentlich größere Trägheitskräfte im Spiel. Werden keine weiteren Schutzvorkehrungen getroffen, können gerade solche Gebäude bei schweren Erdbeben mitunter ohne Vorankündigung einstürzen.

Bei Häusern in Holzständerbauweise kann man die einzelnen Balken des Tragwerks mit plastischen Verbindungsmitteln zusammenfügen. Das erlaubt relativ große Verformungen, bevor die Konstruktion einstürzt. Durch die Elastizität der Verbindungen verpufft ein Teil der Erdbeben-Energie. Auch die Beplankungen der Holzständer – zum Beispiel mit Gipsfaserplatten – fördern diesen Verpuffungseffekt. Sie erhöhen die Steifigkeit und erschweren ein seitliches Abknicken oder Kippen des Tragwerks. Natürlich können derartige Konstruktionen bei schweren Erdbeben trotzdem einstürzen, aber immerhin werden die Bewohner vorab durch die Bewegungen des Gebäudes gewarnt.

Stoßdämpfer im Fundament

Geisterstadt in Süditalien: Nach mehreren Erdbeben ist das Dorf Craco seit 1963 komplett unbewohnbar. Foto: Pixabay

Geisterstadt in Süditalien: Nach mehreren Erdbeben ist das Dorf Craco seit 1963 komplett unbewohnbar. Foto: Pixabay

Baukonstruktionen, die Erdbewegungen besser „aushalten“ können, sind eine gute Sache, aber noch besser wäre es natürlich, wenn die seismischen Schwingungen das Gebäude gar nicht erst erreichen. In der Luft schwebende Gebäude mögen Science Fiction sein, aber immerhin gibt es heute schon ziemlich effektive Methoden, um Häuser zu einem gewissen Grad von dem Grund und Boden, auf dem sie stehen, zu entkoppeln.

So können beispielsweise stählerne Kugeln oder Blei-Einlagen im Gebäudefundament Erdbeben-Schwingungen aufnehmen und dadurch die Kraftwirkungen auf das Haus verringern. Derartig modifizierte Fundamente wirken gewissermaßen wie „Stoßdämpfer“. Eine Variante dieses Prinzips sind so genannte Schwingungspendel, die bei modernen Hochhausbauten in Erdbebenregionen bereits zum Einsatz kommen, zum Beispiel beim 508 m hohen Wolkenkratzer Taipeh 101 in der Hauptstadt Taiwans. In das dortige Gebäude hat man eine riesige, 660 t schwere Stahlkugel von 5,5 m Durchmesser eingebaut, die wie ein Pendel an dicken Stahlseilen aufgehängt ist. Wird das Gebäude von Erdbebenschwingungen erfasst, dann nimmt dieses Pendel einen Teil der Energie auf und macht sie damit unschädlich für das Hochhaus.

Seismische Isolierung

Noch weiter als Schwingungspendel oder Stoßdämpfer im Fundament geht das Prinzip der so genannten seismischen Isolierung. Dabei versucht man, Gebäude vollflächig vom Untergrund zu entkoppeln. Das geschieht durch unterschiedlichste Lagerkonstruktionen, beispielsweise werden Häuser auf Gummi- oder Kugellagern errichtet. Ziel solcher Lösungen ist es, dass die Bauwerke selbst dann nur geringfügig schwingen, wenn unter ihnen der Boden gerade heftig in Bewegung gerät.


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Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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