RM Rudolf Müller
Die neue NEST-Unit UMAR befindet sich auf der mittleren der drei Beton-Plattformen. Foto: Zooey Braun, Stuttgart

Die neue NEST-Unit UMAR befindet sich auf der mittleren der drei Beton-Plattformen. Foto: Zooey Braun, Stuttgart

Energetisches Bauen
21. Mai 2018 | Artikel teilen Artikel teilen

Baustoffrecycling: Nachhaltiges Wohnmodul

Im Schweizer Forschungsgebäude NEST werden neue Technologien und Produkte aus dem Bau- und Energiebereich unter realen Bedingungen getestet. Seit kurzem ist ein neues Wohnmodul ins NEST eingezogen. Die Holzbau-Konstruktion besteht ausschließlich aus Materialien, die wiederverwendbar oder kompostierbar sind.

In der schweizerischen Kleinstadt Dübendorf bei Zürich gibt es seit 2016 einen viergeschossigen Neubau, dessen Konzeption etwa ganz Besonderes ist. Die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA) hat dort als Bauherr das Forschungsgebäude NEST errichten lassen. Die Abkürzung steht für „Next Evolution in Sustainable Building Technologies“. Deutsch übersetzt heißt das so viel wie: Der nächste Evolutionsschritt in der Technologie nachhaltiger Gebäude.

Doch was ist so nachhaltig am NEST? Vor allem: Fast alles an diesem Gebäude ist modulartig austauschbar und kann daher jederzeit flexibel verändert werden. Bleibende Konstanten sind nur das nahezu komplett verglaste Erdgeschoss, das unter anderem den Empfang, zwei Sitzungssäle und einen Lounge-Bereich beherbergt, sowie ein Erschließungs- und Technikern. Um diesen „Backbone“ (Rückgrat) genannten Kern herum kragen drei riesige Stahlbeton-Plattformen aus, die vom Architekturbüro Gramazio Kohler anfangs einfach leer gelassen wurden.

Die NEST-Idee

Der Clou: Die 500 bis 700 Quadratmeter großen Beton-Plattformen sollen künftig mit immer wieder neuen, temporären Forschungsmodulen bestückt werden. Ist ein Forschungsvorhaben beendet, dann verschwindet das jeweilige Raummodul einfach wieder, und nach einer Art „Plug-&-Play“-Prinzip erfolgt die Installation eines neuen Moduls. Die Optik des Baus wird sich also im Laufe der Zeit kontinuierlich verändern – parallel zu den neuen Nutzungsformen. Das NEST ist nicht zuletzt deshalb ein nachhaltiges Gebäude, weil es von vorneherein so konzipiert wurde, dass es sich jederzeit an veränderte Nutzungsbedürfnisse anpassen lässt. Das ist ein wichtiger Faktor der ökonomischen Dimension des nachhaltigen Bauens.

Im NEST arbeiten Forscherteams aus Universitäten und Fachhochschulen, Architekturbüros und innovative Firmen aus der Baubranche zusammen. Auf jeder der drei Betonplattformen lassen sich bis zu fünf verschiedene Raummodule unterschiedlicher Nutzung installieren. In diesen variablen Räumen wird gearbeitet und gewohnt – und gleichzeitig sind sie belebte Versuchslabors. In ihnen werden nämlich neue Technologien und Produkte aus dem Bau- und Energiebereich unter realen Bedingungen getestet.

Die Forschungsschwerpunkte im NEST sind vielfältig, es geht aber im weitesten Sinne immer um Aspekte des nachhaltigen Bauens. Erprobt werden zum Beispiel natürliche Holzbauweisen, ressourcenschonende Leichtbau-Lösungen, serielle Modulbauweisen oder Räume, die aus recycelten und recycelbaren Materialien hergestellt sind (Cradle-to-Cradle-Prinzip). Weitere Forschungsthemen sind unter anderem das Büro der Zukunft, moderne Glasarchitektur, Digital Living, Technologien zur Energiegewinnung, Umwandlung und Speicherung sowie die Optimierung der Wassernutzung.

NEST-Unit „Urban Mining & Recycling“

Die Unit wurde in sieben vorgefertigten Modulen angeliefert. Foto: Wojciech Zawarski

Die Unit wurde in sieben vorgefertigten Modulen angeliefert. Foto: Wojciech Zawarski

Im November 2017 wurde mit der NEST-Unit „Urban Mining & Recycling“ (UMAR) ein neues Forschungsmodul per Kran auf der mittleren Plattform platziert. Genauer gesagt besteht diese Unit sogar aus sieben vorgefertigten Modulen. Diese wurden von der Zimmerei und Tischlerei Kaufmann in deren Werk im österreichischen Reuthe vorfabriziert und danach innerhalb eines Tages in das Forschungsgebäude in Dübendorf eingebaut.

Die neue Unit dient gleichzeitig als Wohnung, Materiallager und Materiallabor. Labor deshalb, weil es bei dem Projekt um die Erprobung einer neuen Stufe des Baustoffrecyclings geht. Für das nachhaltige Wohnmodul wurden nämlich ausschließlich Materialien verwendet, die später vollständig wiederverwendbar oder kompostierbar sind. Insofern dienen die temporären Module zugleich als Materiallager für die Errichtung künftiger Bauwerke. Im Frühjahr 2018 sind zudem zwei Studierende als Testbewohner in die Dreizimmerwohnung des Wohnmoduls eingezogen. Sie werden sich künftig regelmäßig mit den beteiligten Forschern über ihre Alltagserfahrungen austauschen.

Hinter UMAR stehen als verantwortliche Forscher Werner Sobek, Leiter des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren an der Universität Stuttgart, sowie Dirk E. Hebel und Felix Heisel vom Fachgebiet Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). „Die verwendeten Materialien werden nicht verbraucht und dann entsorgt“,  erläutert Dirk E. Hebel das Konzept. „Sie sind vielmehr für eine bestimmte Zeit aus ihrem Kreislauf entnommen und werden später wieder in diesen zurückgeführt.“

Nachhaltige Bauweise

Ansicht einer Wand aus wiederverwerteten Materialien im Inneren des temporären Moduls. Foto: Zooey Braun, Stuttgart

Ansicht einer Wand aus wiederverwerteten Materialien im Inneren des temporären Moduls. Foto: Zooey Braun, Stuttgart

Die neue Unit besteht größtenteils aus unbehandeltem Holz. Bei der Planung hat man von vorneherein darauf geachtet, dass das Naturmaterial derart verbaut wird, dass keine Beschichtung mit Holzschutzmitteln notwendig ist. Das ermöglicht später eine sortenreine Wiederverwertung beziehungsweise eine biologische Kompostierung. Zusätzlich zum Holz besteht die Einfassung der Fassade aus wiederverwendeten Kupferplatten, die zuvor das Dach eines Hotels in Österreich deckten, beziehungsweise aus Platten, die aus eingeschmolzenem, wiederverwertetem Kupfer gefertigt wurden.

Nach Angaben der Werner Sobek Group liegt die größte Innovation des Wohnmoduls in der Art, wie die Materialien der Raumwände miteinander verbunden sind. Auf Klebeverbindungen hat man komplett verzichtet – zugunsten von Steck- und Schraubverbindungen. Dadurch lassen sich später sämtliche Verbindungen des auf Zug und Druck beanspruchten Systems ganz einfach wieder rückgängig machen.

Und auch im Innenbereich der NEST-Unit UMAR geht es nachhaltig zu, auch hier sind alle Materialien recycelbar. Unter anderem werden neuartige Dämmplatten aus Pilz-Myzelium, innovative Recyclingsteine, wiederverwertete Isolationsmaterialien sowie geleaste Teppichböden verwendet.


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Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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