RM Rudolf Müller
Bisher wird im Jahr nur etwa 1 % des Wohngebäudebestands energetisch saniert.  Foto: Deutsche Rockwool

Bisher wird im Jahr nur etwa 1 % des Wohngebäudebestands energetisch saniert.  Foto: Deutsche Rockwool

Hintergrundwissen
05. April 2022 | Artikel teilen Artikel teilen

Wohnungswende: Fokus auf Umbau?

In Deutschland soll künftig deutlich mehr Wohnraum entstehen. Zugleich muss der gesamte Gebäudebestand in rund 20 Jahren klimaneutral sein. Eine neue Studie der „ARGE für zeitgemäßes Wohnen“ analysiert, wie all das gelingen könnte. Die Wissenschaftler setzen auf mehr Neubau, vor allem aber auf die Umwandlung von Nichtwohngebäuden in Wohnraum – natürlich energetisch modernisiert. Die ARGE fordert dafür den Standard Effizienzhaus 115 als „machbaren Mittelweg“ und geht damit auf Konfrontationskurs zur derzeitigen staatlichen Förderpolitik.

Die neue Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag das Ziel gesetzt, dass in Deutschland jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen entstehen, davon 100.000 öffentlich geförderte Sozialwohnungen. Zugleich sieht das im Mai 2021 noch mal verschärfte Klimaschutzgesetz vor, dass bis 2045 der gesamte bundesdeutsche Gebäudesektor klimaneutral sein soll – also nicht nur die Neubauten, sondern auch der riesige Bestand an Wohn-, Büro- und Gewerbeimmobilien.

Wie geht man ein solches Mammutprogramm am besten an? Darüber wird in der Studie „Wohnungsbau: Die Zukunft des Bestandes“ nachgedacht. Sie wurde vom Kieler Bauforschungsinstitut „ARGE für zeitgemäßes Wohnen“ im Auftrag des Verbändebündnisses Wohnungsbau erstellt und Mitte Februar auf dem 13. Wohnungsbautag in Berlin vorgestellt.

Riesiges Umbaupotenzial

Rund 60 % des Bestands wurde vor 1979 errichtet. Alle Grafiken: ARGE e.V.

Rund 60 % des Bestands wurde vor 1979 errichtet. Alle Grafiken: ARGE e.V.

Die Wissenschaftler der ARGE setzen auf einen Mix aus mehr Neubau und deutlich mehr Umbau im Gebäudebestand. Mit Letzterem sind unter anderem klimaneutrale Umbauten von Büros und Gewerbebauten zu Wohnungen gemeint, aber auch Dachaufstockungen auf bestehende Wohn- und Gewerbebauten.

Die Studie analysiert den technischen Zustand und die derzeitige Nutzung des bundesdeutschen Gebäudebestands und macht sich Gedanken über mögliche Sanierungs- und Transformationsstrategien. Zentrales Ergebnis: Allein durch die Umnutzung von Büro-, Verwaltungs- und sonstiger Nichtwohngebäude sowie durch zusätzliche Dachaufstockungen könnte man bis 2040 bis zu 4,3 Mio. neue Wohnungen schaffen. Das hätte nach Ansicht von ARGE-Institutsleiter Dietmar Walberg zudem einen großen Vorteil: „Es gibt eine enorm hohe Anzahl neuer Wohnungen – ohne dafür auch nur einen einzigen Quadratmeter Bauland zusätzlich zu benötigen.“

Durch den Trend zum Homeoffice würden künftig viele Büros nicht mehr gebraucht – argumentiert die ARGE. Allein durch deren Umbau könnten in Deutschland bis 2040 etwa 1,86 Mio. neue Wohnungen entstehen – heißt es in der Studie. Eine solche Transformation koste pro Quadratmeter knapp 1.300 Euro, im Neubau seien es dagegen mehr als 3.400 Euro. Laut Studie sind in Deutschland 30 % der Büro- und Verwaltungsgebäude bereits mit einfachem/geringem baulichen Aufwand sowie weitere 20 % mit mittlerem baulichem Aufwand für die Umnutzung zu Wohnungen technisch und funktional geeignet.

Da sich ein Überangebot an Büroräumen überwiegend in städtischen Ballungsräumen abzeichnet, ergeben sich gute Chancen, dass neuer Wohnraum durch Umbau genau dort entsteht, wo er am dringendsten benötigt wird. Die ARGE betont, dass solche Umbauten „energieeffizient, barrierefrei sowie alters- und generationengerecht“ sein müssten. Zugleich mahnt sie an, dass es für diese neue Art der Wohnraumschaffung natürlich auch angepasste Förderprogramme und/oder steuerliche Anreize geben müsse.

Insgesamt rund 2,4 Mio. neue Wohnungen könnten laut Studie durch Dachaufstockungen entstehen: rund 1,5 Mio. durch On-Top-Etagen auf bestehenden Wohnhäusern, rund 560.000 Wohnungen durch das Aufstocken von Verwaltungsgebäuden und Bürokomplexen sowie rund 420.000 auf Supermärkten, Discountern, Einkaufspassagen und Parkhäusern. Die Kosten solcher Aufstockungen liegen laut ARGE bei weniger als 2.500 Euro pro Quadratmeter.

Gewaltige Investitionen notwendig

Erstaunliche Studienergebnisse: Neubau ist billiger als neubaugleiche Modernisierung, der Büroumbau wiederum deutlich kostengünstiger.

Erstaunliche Studienergebnisse: Neubau ist billiger als neubaugleiche Modernisierung, der Büroumbau wiederum deutlich kostengünstiger.

Mit dem beschriebenen Umbau von Nichtwohnraum zu Wohnraum würde man tatsächlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Man erhielte mehr Wohnraum, den man im Zuge der ohnehin notwendigen Umbauarbeiten dann auch gleich klimaneutral sanieren könnte. Die Masse der deutschlandweit knapp 19,3 Mio. Wohngebäude bliebe danach freilich weiterhin unsaniert. Aktuell wird hierzulande jedes Jahr nämlich nur etwa 1 % des Wohngebäudebestands energetisch saniert.

Laut Studie wurde in den letzten 30 Jahren rund ein Drittel des deutschen Wohngebäudebestands energetisch modernisiert. Immerhin – könnte man sagen. Nach Angaben der ARGE müsste die jährliche Sanierungsrate aber mindestens 1,8 % betragen, damit Deutschland seine Klimaschutzziele im Gebäudesektor erreichen kann. Billig wäre das nicht: Bei einer Sanierungsrate von 1,8 % würden sich die jährlichen Kosten für Energiespar-Sanierungen laut Studie auf 110 bis 150 Mrd. Euro summieren. Bis 2045 – dem angestrebten Jahr der Klimaneutralität – ergäbe das 2,6 bis 3,6 Billionen Euro.

Den Großteil dieser Investitionen müssten natürlich die Hausbesitzer stemmen beziehungsweise – falls vorhanden – deren Mieterinnen und Mieter. Um eine derartige Energiespar-Offensive bei Altbauwohnungen überhaupt erst einmal anzustoßen, bedarf es nach Angaben der ARGE aber auch staatlicher Förderung. Das Bauforschungsinstitut empfiehlt mindestens 30 Mrd. Euro pro Jahr zur Förderung energetischer Modernisierungen. Diese Mittel seien notwendig, „um investive Anreize auszulösen und Unwirtschaftlichkeiten auszugleichen“ – heißt es in der Studie.

Die geschätzten Gesamtkosten von jährlich 150 Mrd. Euro bei einer Sanierungsrate von 1,8 % werden nach den gegenwärtigen Rahmenbedingungen in der Praxis aber gar nicht ausreichen. Sie beruhen nämlich auf einem Szenario der ARGE, bei dem Altbauten auf das energetische Niveau des Effizienzhauses 115 (EH115) saniert werden. Nach einer Kosten-Nutzung-Abwägung ist das Bauforschungsinstitut zu dem Schluss gekommen, dass dieser Standard der Richtige ist, um das Wohnen nicht unverhältnismäßig teuer zu machen. Dumm nur, dass sich die Politik mittlerweile vom EH115 verabschiedet hat.

Diskrepanz zur Politik

Verkehrte Welt: Die jährlich modernisierte Wohnfläche nimmt ab – gleichzeitig steigen die Ausgaben für energetische Modernisierungen.

Verkehrte Welt: Die jährlich modernisierte Wohnfläche nimmt ab – gleichzeitig steigen die Ausgaben für energetische Modernisierungen.

Wie bereits im BaustoffWissen-Beitrag „Was sind Effizienzhäuser?“ beschrieben wurde, hat nämlich noch die alte Bundesregierung bereits im Juli 2021 die Förderung von EH115-Sanierungen gestrichen. Seitdem gibt es Staatsgeld nur noch für energetische Modernisierungen, die eine der ambitionierteren (und entsprechend teureren) Effizienzhaus-Stufen 100, 85, 70 oder sogar 55 anstreben. Die „billigste“ Variante ist nun also EH100. Bei dieser Stufe muss der Energiebedarf von Altbauten genau auf den Neubau-Standard des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) gesenkt werden. Es liegt auf der Hand, dass dies teurer ist – und zugleich mehr Fördergelder verschlingt – als Sanierungen auf EH115-Niveau.

Für künftige Neubauten empfiehlt die ARGE-Studie übrigens das Effizienzhaus 70. Auch das zeigt eine deutliche Kluft zu den aktuellen Vorstellungen der Politik. Schließlich hat die Bundesregierung EH70-Förderungen bereits 2016 beendet. Seitdem gab es für Effizienzhäuser im Neubau nur noch Fördermittel für die Stufen 40 und 55 sowie für die damals neu eingeführte Stufe 40 Plus. Die Kluft wurde am 24. Januar 2022 noch größer, denn seitdem ist auch die staatliche Förderung für das Effizienzhaus 55 Geschichte.

Es scheint zudem vorprogrammiert, dass die Diskrepanz zwischen den Vorstellungen von Bundesregierung und ARGE beziehungsweise Verbändebündnis noch weiter zunimmt. Das zeigt ein Blick in den Koalitionsvertrag. Dort formuliert die Ampelregierung auf Seite 90 das konkrete Ziel, ab 2025 die Effizienzstufe 40 zum neuen Neubau-Standard zu machen. Was aber Standard ist, wird nach bisheriger Logik nicht mehr gefördert.

Laut Verbändebündnis Wohnungsbau zeigt die ARGE-Studie „für den Bestand und für den Neubau einen Weg auf, wie es mit begrenzten finanziellen Mitteln und angespannten Arbeitskräftemärkten gelingen kann, einen klimaneutralen Wohnungsbestand bis 2045 zu realisieren, der die Bürger nicht überfordert“. Man muss hinzufügen: Es ist ein Weg, auf dem die Bundesregierung derzeit nicht wandelt.


Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

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