RM Rudolf Müller
Nützliches Strandgut: Frisches Seegras aus der Ostsee.  Foto: Seegrashandel.de

Nützliches Strandgut: Frisches Seegras aus der Ostsee.  Foto: Seegrashandel.de

Dämmstoffe
14. Juni 2021 | Artikel teilen Artikel teilen

Dämmen mit Seegras

In Küstennähe wachsen am Meeresboden große Mengen Seegras. Die einjährigen Pflanzen erneuern sich immer wieder von selbst, und das verblühte Material wird regelmäßig durch die Flut an Land gespült. Was vielen als lästiges Strandgut erscheint, betrachtet man in der Ökobaustoff-Szene zunehmend als wertvollen Rohstoff. Denn aus den Überresten der Unterwasserwiesen lassen sich ohne großen Aufwand sehr nachhaltige Dämmstoffe für die Gebäudeisolierung herstellen.

Bisher sind Seegras-Dämmstoffe gleichwohl ein Nischenmarkt. In Deutschland gibt es im Grunde nur zwei kleinere Firmen, die das Thema seit einigen Jahren voranzutreiben versuchen. Eine davon ist die Seegrashandel GmbH mit Sitz im schleswig-holsteinischen Westerau südwestlich von Lübeck – also in Ostseenähe. Das Unternehmen wurde 2012 von Jörn Hartje und Swantje Streich gegründet und vertreibt seitdem Seegras-Rundballen, die es von dänischen Ostseeinseln bezieht.

Rohstoff aus der Ostsee

Fassaden-Hohlraumdämmung: Händler Jörn Hartje packt auch gerne selbst an. Foto: Seegrashandel.de

Fassaden-Hohlraumdämmung: Händler Jörn Hartje packt auch gerne selbst an. Foto: Seegrashandel.de

Auf seiner Website berichtet das umweltbewegte Händlerpaar zwar von einer wachsenden Nachfrage – Mitte Mai mussten Neukunden mit Lieferzeiten von mehreren Monaten rechnen –, es handelt sich aber um einen Boom im kleinen Maßstab. In den vergangen rund acht Jahren haben Hartje und Streich mit ihrer Firma insgesamt rund 250 Baustellen beliefert. Das zeigt: Seegras ist hierzulande weit davon entfernt, ein Massendämmstoff zu sein.

Das Gründerteam von Seegrashandel hatte 2004, bei der Modernisierung des eigenen, über 100 Jahre alten Hauses, erstmals Erfahrungen mit Seegras als Dämmstoff gemacht. Die Beiden waren sofort begeistert, stellten aber auch fest, dass es in Deutschland kaum Bezugsquellen für den alternativen Naturdämmstoff gab. Für die Dachdämmung ihres Hauses mussten sie damals Seegras von dänischen Landwirten beziehen. Material aus der deutschen Ostsee gab es dagegen nirgendwo zu kaufen.

Also beschlossen sie, es selbst zu machen und gründeten die Seegrashandel GmbH. Ihr Material beziehen Hartje und Streich bisher allerdings weiterhin von dänischen Landwirten. Warum sie nicht einfach losziehen und den Rohstoff zum Beispiel am Lübecker Ostseestrand selbst einsammeln, deuten sie auf ihrer Website an: Das hierzulande bei der Strandreinigung anfallende Seegras sei oft stark mit Sand und Müll verunreinigt, was die Verwertung verteuere – heißt es dort.

Da die Nachfrage nach dem Ökodämmstoff mittlerweile größer ist als das Angebot, das die dänischen Partner liefern können, plant der Seegrashandel nun aber doch einen eigenen Produktionsstandort in Küstennähe. Das kündigte Swantje Streich im Januar in einem Youtube-Video an. Vor allem nach Stürmen wolle man künftig frische Seegras-Anspülungen abpassen und somit möglichst reines Seegras für Dämm- und Polsterzwecke absammeln.

Nachhaltige Herstellung

Neptunbälle aus dem Mittelmeer lassen sich ohne chemische Zusätze zu Dämmstoffen verarbeiten. Foto: Fraunhofer ICT

Neptunbälle aus dem Mittelmeer lassen sich ohne chemische Zusätze zu Dämmstoffen verarbeiten. Foto: Fraunhofer ICT

Einen Produktionsstandort für Seegras-Dämmstoffe darf man sich nun nicht als herkömmliches Industriewerk vorstellen. Das angeschwemmte Strandgut muss eigentlich nur gewaschen, getrocknet und gepresst werden. Der Primärenergiebedarf zur Herstellung der Dämmung ist extrem niedrig. Schließlich wird Seegras vom Meer ans Land gespült, ohne dass der Mensch irgendetwas dafür tun müsste. Es wird auch nicht aufwändig aufbereitet, verändert oder mit Zusatzstoffen versetzt, sondern kommt naturrein zum Einsatz. Hat das Material irgendwann mal als Dämmstoff ausgedient, kann man es einfach zur Auflockerung unter die Gartenerde mischen. Aber auch als Dämmstoff lässt es sich mehrfach verwenden.

Jörn Hartje und Swantje Streich verkaufen ihr Seegras aus der Ostsee in Form von circa 200 kg schweren Rundballen. Diese bestehen aus relativ langen Pflanzenfasern, die in Knäueln miteinander verstrickt sind. Etwas anders sieht es bei den Produkten der Neptu GmbH aus Karlsruhe aus. Dieser zweite deutsche Seegras-Anbieter verwendet für seinen Dämmstoff „Neptutherm“ naturreines Gras aus dem Mittelmeer, das er anschließend weiter zerkleinert, sodass am Ende eine ökologische Dämmwolle aus relativ kurzen Fasern entsteht.

An Mittelmeerstränden werden häufig filzige Bälle aus Seegras angeschwemmt. Bei diesen so genannten „Neptunbällen“ handelt es sich um Bestandteile der Seegras-Art Posidonia oceanica, die durch Meeresbewegungen bereits zerkleinert wurden. Bei Neptu in Karlsruhe werden die Fasern dieser Bälle noch weiter zerkleinert, sodass am Ende eine ökologische Wärmedämmwolle entsteht.

Überzeugende Eigenschaften

Die Seegrashandel GmbH vertreibt den Dämmstoff in Form gepresster Rundballen. Foto: Seegrashandel.de

Die Seegrashandel GmbH vertreibt den Dämmstoff in Form gepresster Rundballen. Foto: Seegrashandel.de

Trotz der äußerlichen Unterschiede haben die Dämmstoffe von Neptu und Seegrashandel aber weitgehend identische bauphysikalische Eigenschaften. Die Wärmeleitfähigkeit liegt je nach Rohdichte zwischen 0,043 und 0,046 W/mK.

Seegras bietet zudem einen guten Schallschutz und einen hervorragenden sommerlichen Wärmeschutz. Letzteres hängt mit der hohen Wärmespeicherfähigkeit des Materials zusammen. Neptu gibt die spezifische Wärmekapazität seiner Seegras-Dämmwolle mit 2.599 J/kgK an. Der Wert drückt aus, wie viel Wärmeenergie (gemessen in Joule) 1 kg des Werkstoffs aufnehmen muss, damit seine Temperatur um ein Kelvin ansteigt. Zum Vergleich: Die spezifische Wärmekapazität von Steinwolle liegt unter 1.000 J/kgK.

Seegras wächst unter Wasser. Insofern überrascht es nicht, dass die Pflanzenfasern schimmel- und verrottungsresistent sind. Auch Ungeziefer und Pilze können ihnen nichts anhaben. Seegras hat grundsätzlich wenig Probleme mit Wasser und trocknet auch schnell wieder, wenn es mal feucht wird. Beim Einsatz als Dämmstoff sollte es dennoch nur in Bereichen verwendet werden, in denen keine permanente Feuchteeinwirkung besteht. Als Perimeterdämmung ist das Material zum Beispiel nicht geeignet. Beim Einbau sollte man es auch möglichst vor Niederschlägen schützen.

Gleichwohl betont Neptu, dass der eigene Dämmstoff das Dreifache seines Eigengewichts an Wasserdampf zwischenspeichern kann, ohne dass sich danach die Wärmedämmleistung verschlechtern würde. Beim Brandverhalten ist Seegras in die Baustoffklasse B2 einzuordnen („normal entflammbar“). Wie die Seegrashandel GmbH in diesem Video demonstriert, glimmen die Fasern aber eigentlich nur und geraten nicht wirklich in Brand. Werden sie von den Flammen getrennt, erlischt auch die Glut sogleich wieder. Das hängt offenbar mit dem hohen Silikat- und Salzgehalt der Pflanzen zusammen.

Typische Einsatzbereiche

Seegras kommt üblicherweise bei der Dämmung von Hohlräumen zum Einsatz – insbesondere bei Dach-, Außenwand- (Fassade und Innendämmung) sowie Deckenkonstruktionen. Das Material wird meist per Hand in den Hohlraum gestopft oder geschüttet. Das Produkt Neptutherm lässt sich darüber hinaus auch maschinell als Einblasdämmung verarbeiten.


Über den Autor Roland Grimm ist seit Februar 2013 freier Journalist mit Sitz in Essen und schreibt regelmäßig Fachwissen-Artikel für BaustoffWissen. Zuvor war er rund sechs Jahre Fachredakteur beim Branchenmagazin BaustoffMarkt und außerdem verantwortlicher Redakteur sowie ab 2010 Chefredakteur der Fachzeitschrift baustoffpraxis. Kontakt: freierjournalist@rolandgrimm.com

 

Was sind Naturdämmstoffe?

Unter nachwachsenden Rohstoffen versteht man land- oder forstwirtschaftliche Produkte, die nach ihrem Verbrauch immer wieder von neuem zur Verfügung stehen...

mehr »
 

Hanf-Dämmungen und ihre Eigenschaften

Dämmstoffe auf Hanfbasis sind zwar keine Wärmeschutz-Wunder, sie punkten aber durch eine vorbildliche Nachhaltigkeit und wohngesunde Eigenschaften. Der pflanzliche Rohstoff wird von der Baustoffindustrie zu Matten, Platten und Filzen sowie zu loser Stopfwolle und zu Schüttungen verarbeitet. ...

mehr »
 

Reet als Baustoff: Dachmaterial und Schallschlucker

Den Naturstoff Reet verbindet man im Baubereich vor allem mit den traditionellen Reetdächern, die besonders im Nord- und Ostseeraum auch...

mehr »
Nach oben
nach oben